Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
überhaupt in der Matratze drin? Sand?«
»Schießpulver. Also die Glut nicht fallen lassen.« Er deutete auf Narraway. »Hier haben wir einen nagelneuen Leutnant, zumindest neu in Kanpur. Erzählen Sie ihm von der Garnison. Wir haben ja ganz gute Mangos hier. Und Tamarinden, wenn Sie die mögen, oder Guaven. Sonst gibt’s nichts Erwähnenswertes.«
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, erkundigte sich Tierney. Er blickte Rawlins immer noch an.
»Hab nichts gehört. Sollten wir siegen, sag ich’s Ihnen. Versprochen. Wenn nicht, werden Sie das ohnehin merken.«
Zum Spaß salutierte er, ging wieder auf den Gang hinaus und ließ Narraway alleine am Bett zurück.
Narraway verließ der Mut, Tierney nach dem Hinterhalt auf die Patrouille zu fragen. Für das Verfahren war es ohnehin nicht von Bedeutung. Es spielte keine Rolle, wohin Dhuleep Singh gegangen war oder was er wem gesagt hatte. Der Mord an Chuttur Singh reichte aus, um Tallis zu verurteilen.
»Wo waren Sie stationiert, bevor Sie hierherkamen?«, fragte er im Plauderton.
»In Delhi, Gott steh mir bei«, erwiderte Tierney mit heruntergezogenen Mundwinkeln.
»War wohl ziemlich schlimm da.«
»Und völlig unnötig obendrein.« In seiner Stimme klang Verbitterung. »Ein indischer Soldat ist ein verflucht guter Kämpfer. Hätten wir doch nur zugehört, statt immer alles besser wissen zu wollen. Wir betrachten es einfach als selbstverständlich, dass sie uns treu dienen. Wir verdammten Idioten hätten es kommen sehen können. Dämliches, blutiges Durcheinander! Und Sie?«
»Kalkutta.« Narraway erinnerte sich an seine Ankunft in Indien. Er war verwirrt und aufgeregt gewesen, hatte Angst gehabt, als er die ersten Gerüchte von den Unruhen hörte. »Bin vor fast einem Jahr da angekommen. Damals dachte ich, ich könnte dem englischen Winter entkommen!« Er stieß ein ironisches Lachen aus.
»Hätte nichts gegen etwas Schnee an Weihnachten. Wo kommen Sie her? Sie klingen, als kämen Sie aus meiner Gegend, aber das kann auch an Ihrer Schulbildung liegen. Wie ich sehe, sind Sie Leutnant und nicht viel älter als zwanzig.«
Narraway wollte einfach nicht über Indien, die Meuterei, den Verrat, die Verletzungen, die blinde Dummheit oder den Prozess sprechen. Deshalb erzählte er von seiner Heimat, den sanften Hügeln und den weiten Tälern von Kent. Von langen Ausritten frühmorgens durch die Weald-Landschaft, wenn das Licht auf das lange Gras fällt, das wie Wasser in der Brise wogt.
»Was machen Sie also hier in dem Staub, außer Currygerichte zu essen, sich die Zeit zu vertreiben und darauf zu warten, dass etwas passiert?« Mit einem Lächeln in den Augen zuckte Tierney steif mit den Achseln.
»Dem gekochten Kohl entgehen, dem grauen Himmel und dem beißenden Wind, der oftmals Schneeregen mit sich bringt«, erwiderte Narraway heiter. »Und dem Zorn meines Vaters«, fügte er noch hinzu. Das klang ernster, als er beabsichtigt hatte.
»Dann geht es Ihnen ja wie allen hier«, sagte Tierney mitfühlend. »Erzählen Sie mir mehr von Kent. Mögen Sie das Meer? Ich vermisse es, den Geruch, die kalte, scharfe Gischt im Gesicht.«
Narraway blieb fast eine halbe Stunde und erzählte, bis Tierney erschöpft war. Selbst dann wollte er nicht, dass Narraway ging. Erst als er in einen unruhigen Schlaf fiel, ging Narraway leise hinaus, froh, dass er noch zwei Beine hatte. Nun nahm er den Blutgeruch, die Karbolseife und all die anderen Gerüche, die er lieber nicht benennen wollte, nicht einmal mehr wahr.
Er brauchte Ruhe, um nachzudenken. Seine Gefühle hinderten ihn daran, etwas zu entwerfen, was die Bezeichnung »Plan« verdient hätte.
Das Gefühl der Hilflosigkeit überwältigte ihn. Jeder wusste etwas über die Vergeblichkeit des Krimkriegs zu sagen, und der Sinn und Zweck dieses Kriegs wurden in Zweifel gezogen. Die britische Armee hatte Napoleon bei Waterloo geschlagen und sich zu lange auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Jetzt war sie schwerfällig und dringend reformbedürftig.
Der Schwachsinn mit den gefetteten Patronen, der in Dum Dum so grauenhaft offenkundig geworden war und die Meutereien im ganzen Land entfacht hatte, wurde von einigen immer noch gerechtfertigt. All das wäre zu vermeiden gewesen! Gab es denn keinen Gedankenaustausch, keine Erkenntnisse, aufgrund derer man die Fehler hätte vorhersehen und vermeiden können? Sprach die Armee denn nicht mit der Regierung? Hörte denn niemand zu?
Es war wirklich nur ein kleiner Teil vom Ganzen, und doch, wenn man an
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