Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
sich auf die Suche nach Dhuleep gemacht, fanden aber nur vereinzelte Spuren seiner Flucht, Zeichen an Orten, wo er gewesen sein musste. Die Patrouille wurde aus dem Hinterhalt getötet, alle außer Tierney.
Tallis war der einzig mögliche Schuldige. Tallis schwor aber, dass er unschuldig sei. Was fehlte? Wer log?
Tallis musste es doch gewesen sein, oder etwa nicht?
Welche Information, welche Erkenntnis fehlte? Er hasste das Chaos, das Indien gerade mit einer solchen Wucht erfasste, und dessen winzigen Bestandteil, der in seinem Kopf hin und her wirbelte, ohne einen Sinn zu ergeben. Er hasste diese innere Finsternis.
Er wurde anstandslos zu Tallis vorgelassen. Allerdings hatten die beiden Waschposten einen abweisenden Gesichtsausdruck, vielleicht weil sie sich dachten, dass er Tallis auf eigenen Wunsch verteidigte und nicht wussten, dass er dazu abkommandiert war. Er zögerte, wollte ihnen klarmachen, dass es gegen seinen Willen geschah, merkte dann aber, wie kindisch so etwas wäre. Die Hälfte aller Aufgaben in der Armee wurde nicht freiwillig erledigt. Trotzdem mussten Pflichten erfüllt werden, so gut man eben konnte, ohne Murren und Ausreden. Er war Offizier, von ihm wurde Besseres erwartet. Die Tatsache, dass er noch vor zwei Jahren die Schulbank gedrückt hatte, spielte keine Rolle. Mit achtzehn waren viele Männer schon Soldat, kämpften, wurden beschossen, erfüllten treu und mutig ihre Pflicht. Respekt musste man sich verdienen.
Er dankte den Wachposten und trat in die Zelle.
Tallis stand stramm. Narraway hatte ihn erst vor ein paar Stunden gesehen, aber schon jetzt sah er noch dünner aus, noch grauer im Gesicht. Sein düsterer Blick verriet, dass er wusste, dass er nur noch zwei oder drei Tage zu leben hatte.
Für Nettigkeiten war keine Zeit, und jetzt wären sie geradezu grotesk gewesen. Da in der Zelle – außer dem Fußboden – keine Sitzgelegenheit war, blieben sie beide stehen.
»Rühren!«, sagte Narraway, sonst hätte Tallis weiter strammstehen müssen. »Ich habe mit den drei Männern gesprochen, die den Alarm gehört und Chuttur Singh gefunden haben. Chuttur hat Sie nicht erwähnt, aber gesagt, dass jemand hereingekommen sei, ihn überrumpelt und Dhuleep freigelassen habe, und bei der gegebenen Situation gibt auch nur diese Erklärung einen Sinn. Von innen hätte er die Tür selbst nicht öffnen können.«
»Ich weiß«, erwiderte Tallis hastig. »Wir wissen alle, dass noch jemand im Spiel gewesen sein muss, aber ich war es nicht.« Seine Stimme klang ganz normal, aber in seinen Augen war Verzweiflung zu erkennen. »Ich habe die Verbände gezählt und die Medikamente, die wir noch auf Lager hatten. Ich kann es nicht beweisen, weil niemand sonst wusste, was noch vorrätig war. Wenn ich es selbst gewusst hätte, hätte ich ja auch nicht zählen brauchen. Es ist das erste Mal, dass ich bedaure, keinen Kranken dagehabt zu haben!«
»Haben Sie Dhuleep jemals behandelt? Wissen Sie etwas über ihn? Es ist wahrlich nicht der Moment, um auf ärztlicher Schweigepflicht zu bestehen.«
»Jetzt könnte ich vermutlich etwas erfinden«, sagte Tallis mit aufgesetzter Fröhlichkeit. »Wie wär’s mit Tollwut? Ich habe ihn freigelassen, damit er die gesamte Armee der Meuterer ansteckt. Gefällt Ihnen nicht? Dann könnte ich …«
»Tallis!«, schnauzte Narraway ihn an. »Ich will wissen, ob Sie diesen verdammten Kerl kannten? Hatten Sie ihn schon einmal behandelt?«
Tallis blickte etwas erstaunt. »Ja. Der Ballen des linken Fußes war entzündet. Ich habe ihn noch genau vor Augen und könnte ihn aufzeichnen. Konnte ihn allerdings auch nicht heilen. Da konnte man gar nichts machen. Habe auch seine Verdauungsstörungen behandelt. Das heißt aber noch lange nicht, dass wir Freunde waren. Ich mache keinen Unterschied zwischen Leuten, die ich mag, und solchen, die ich nicht mag. Darum geht es doch in der Medizin.« Er lächelte traurig und selbstironisch. »Genau wie Sie Leute verteidigen, egal ob Sie glauben, dass sie schuldig sind oder nicht …«
Narraway fehlten die Worte. Er hatte nicht gedacht, so durchschaubar zu sein. »Geben Sie mir doch wenigstens irgendeinen Anhaltspunkt für meine Argumentation!« Er flehte ihn regelrecht an. »Was war Dhuleep für ein Mensch? Warum hatte niemand damit gerechnet, dass er ausbrechen könnte? Warum gab es nur einen Wachposten? Wer wollte ihm helfen? Mit wem stand er in Verbindung? Wer hatte ein Interesse, ihn auf freiem Fuß zu sehen? Wenn Sie es nicht waren,
Weitere Kostenlose Bücher