Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
die paar eingefetteten Patronenhülsen dachte, an die Gerüchte, die sich wie ein Steppenbrand ausgebreitet hatten, erkannte Narraway, welches Ausmaß eine kleine, gedankenlose Handlung haben konnte. Ein einziges Streichholz, unbemerkt entzündet, konnte, wenn der Boden schon knochentrocken war, einen Flächen brand entfachen, der eine ganze Nation verzehrte.
    Er musste den Auftrag, den Latimer ihm erteilt hatte, zum Wohle aller erfüllen. Wenn er Tallis nicht gut genug verteidigte, wenn das Gericht nicht guten Gewissens behaupten könnte, dass er Tallis anständig vertreten hatte, ja, dann wäre eine Hinrichtung in gewisser Weise ein Mord. Dann würde es für andere womöglich so aussehen, als ob das Regiment ihn nur verurteilt hätte, um von eigenen Fehlern abzulenken und Rache, nicht Gerechtigkeit, zu üben. Sie würden als wenig vertrauenswürdige Feiglinge dastehen; mehr noch, sie würden als ehrlos in die Geschichte eingehen.
    Er ging weiter, seine Schritte waren auf der Erde und dem dünnen Wintergras kaum zu hören. Er ging an den von Granatfeuer zerschossenen Mauern vorbei. Vier Mo nate nach den Ereignissen begannen sie, allmählich zu sammenzubrechen. Vor ihm, unter drei Bäumen, befand sich ein kleiner, mit Gras und Gestrüpp bewachsener Verteidigungshügel. Die dürren Bäume ragten grazil in die Höhe. Einer hatte keine Blätter mehr und war sichtlich abgestorben. Die anderen standen noch mit üppigen Zeichen des Lebens da und würden im Frühling wieder Blätter, vielleicht sogar Blüten tragen.
    Ein paar Meter weiter befand sich ein runder Brunnen aus Steinen. Es gab nichts, mit dem man hätte Wasser schöpfen können, keinen Eimer, keinen Deckel, der den Brunnen vor fallendem Laub geschützt hätte, kein Seil oder Flaschenzug.
    Er blieb stehen und sah alles mit Interesse an. Ein trostloser Anblick.
    »Sie sollten hier nicht stehen bleiben, Sir.«
    Er drehte sich um und entdeckte nicht weit von sich Peterson.
    »Ach, wirklich?« Jetzt war er neugierig geworden. Peterson war ganz bleich, seine Augen hohl, ohne Leben. »Fühlen Sie sich nicht wohl? Sie sehen aus …«
    Peterson erschauderte. »Das hier ist der Brunnen, Sir – dieser Brunnen. Sie sollten hier nicht stehen bleiben.«
    »Dieser Brunnen?«, hakte Narraway nach.
    »Bibighar. Hier haben sie Frauen und Kinder mit Säbeln, Äxten und Beilen getötet und dann in den Brunnen geworfen.« Er machte eine hilflose Geste. »Sie sollten hier nicht bleiben, Sir.«
    Narraway dachte einen Augenblick lang, er müsste sich übergeben. Ihm drehte sich der Magen um, und die Umrisse der Bäume nahm er nur noch verschwommen wahr. Ihm brach der Schweiß aus. Er drehte sich um und blickte Peterson ins Gesicht.
    »Sie haben recht«, stimmte er ihm zu. »Ich wusste nicht, dass es … dieser Brunnen war.« Vorsichtig, etwas unsicher, setzte er einen Fuß vor den anderen und entfernte sich. Peterson ging etwa einen Meter hinter ihm.
    Er kannte die Geschichte teilweise, hatte gehört, wie die Leute flüsternd darüber sprachen und dann schmerzvoll schwiegen. Kanpur war am 17. Juli befreit worden, ungefähr vor fünf Monaten, aber die Geister der Belagerung gingen immer noch um. Die Hitze war damals unerträglich, fast 50 Grad im Schatten. Die Soldaten, die zur Befreiung aufmarschierten, fanden voller Entsetzen die Leichen von mehr als 400 Männern, Frauen und Kindern.
    Während der Belagerung der Stadt hatte Nana Sahid die Frauen, die seinem Vergnügen dienen sollten, im Bibighar untergebracht – einem großen Haus mit zwei Räumen. Auch dort hatten die Soldaten Spuren des Massakers entdeckt: Haare, Kämme, Kinderschuhe, Hüte, Hauben, herausgerissene Seiten aus Bibeln und Gebetbüchern.
    »Am liebsten würde ich diesen Nana Sahib aufschlitzen und ihm die Eingeweide herausreißen«, sagte Peterson leise und starrte in die Ferne. »Und sie vor seinen eigenen Augen verbrennen.«
    Narraway fand nur mühsam seine Sprache wieder. »Dafür würde Sie niemand anklagen.« Er räusperte sich. »Und wenn, würde ich Sie verteidigen. Selbst meine geringen Kenntnisse würden ausreichen, um Sie rauszuboxen. Ich verstehe nicht, dass die Leute hier nicht alle verrückt werden.«
    »Vielleicht sind wir es ja schon. Manchmal frage ich mich, ob ich noch normal bin. Ich wache mitten in der Nacht auf, und ich rieche Blut. Ist das nicht merkwürdig? Ich kann es nicht sehen, aber ich rieche es, und ich höre die Fliegen. Glauben Sie an Gott?«
    Narraway wollte schon automatisch antworten,

Weitere Kostenlose Bücher