Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
sprechen: er wollte wissen, was Busby aus ihm herauslocken würde, obwohl selbst das ihn nicht weiterbrächte. Er konnte nichts ändern, nicht einmal Rawlins’ Aussage verhindern. Er musste sich pro forma mit der Sache befassen, weil es ihm befohlen worden war. Wenn er doch nur Tallis’ Gesicht, seinen Ausdruck in den Augen vergessen könnte.
Er trat in das Gebäude und ging ausgestorbene Gänge entlang. Er traf einzelne Sanitäter, ein paar Soldaten mit Wundverbänden und einen mit Krücken. Er fragte nach Rawlins, und man zeigte ihm, wohin er gehen musste. Es roch nach Verletzung und Krankheit, nach Lauge und Essig. Sein Magen zog sich zusammen, und am liebsten hätte er den Atem angehalten. Wie viele Männer und Frauen waren hier wohl schon gestorben?
Rawlins war gerade dabei, die oberflächliche Wunde eines Mannes zu nähen. Narraway musste warten, bis er fertig war und ihm in der Angelegenheit, die für Rawlins alles andere als dringlich war, zur Verfügung stand.
Er bat Narraway, in seinem kleinen Büro auf einem wackligen Stuhl Platz zu nehmen. Rawlins setzte sich an das Tischende. Er war um die vierzig, etwas größer als der Durchschnitt und hatte breite Schultern. Wenn Licht auf sein blondes Haar fiel, sah man graue Strähnen. Die vielen Jahre unter der indischen Sonne hatten seine Haut tiefbraun gefärbt. Er sah gut aus, deutlich englischer als Narraway selbst. Narraway hatte gehört, dass er mit einer indischen Frau verheiratet war.
»Dachte mir schon, dass Sie kommen«, bemerkte Rawlins. »Aber ich kann Ihnen auch nichts Hilfreiches berichten. Ich wünschte, ich könnte es. Ich mochte Tallis nämlich. Manchmal spielte er den Clown, aber er war ein verdammt guter Sanitäter. Hätte er die Gelegenheit gehabt, wäre er auch ein guter Arzt geworden. Durch Mut und schnelles Denken hat er manchen das Leben gerettet.« Sein Blick verdüsterte sich plötzlich. »Keine Ahnung, was in ihn gefahren ist. Das Beste, was Sie für ihn tun können, ist, ihm keine falschen Hoffnungen zu machen. Es ist völlig klar, wie die Sache enden wird.«
»Er sagt, dass er es nicht getan hat«, erwiderte Narraway. »Die Tatsachen sprechen dagegen, und dennoch fällt es mir schwer, ihm nicht zu glauben. Oder zumindest denke ich, dass er selbst davon überzeugt ist. Warum sollte er so etwas tun?«
Rawlins zuckte mit den Achseln. »Weiß Gott. Warum sollte es überhaupt jemand tun? Außer vielleicht jemand, der mit den Aufständischen sympathisiert. Aber wenn das so ist, warum zum Teufel wechselt man dann nicht die Seite? Hierzubleiben bedeutete ja, mit aller Wahrscheinlichkeit auch getötet zu werden. Die Situation wird sich in nächster Zukunft nicht verbessern. So ein verdammter Mist. Am allerwenigsten können wir es jetzt gebrauchen, einen wirklich guten Sanitäter zu verlieren. Stellen Sie Ihre Fragen. Es ist zwar reine Zeitverschwendung, aber vermutlich müssen Sie der Ordnung halber alles noch einmal durchgehen.«
»Ich weiß nicht, was ich anderes tun kann«, gab Narraway zu. »Für so eine Tat gibt es keine Verteidigungsstrategie.« Am liebsten hätte er Rawlins gesagt, wie hilflos er sich fühlte und wie Tallis ihn ganz und gar durcheinandergebracht hatte, aber er verachtete Leute, die ständig jammern. »Busby wird Sie wegen Chuttur Singh verhören. So wie Grant es beschreibt, wurde er auf den Kopf geschlagen und dadurch wahrscheinlich ohnmächtig. Tallis nahm seinen Säbel, und nachdem er Dhuleep aus der Zelle gelassen hatte, erschlug er Chuttur. Stimmt das mit den medizinischen Befunden überein?«
»Es scheint so«, bestätigte Rawlins. Ein bedauernder Ausdruck legte seine Stirn in Falten. »Ich sehe nicht, wie es anders hätte vor sich gehen können, seien Sie versichert. Chuttur hatte genau die Verletzungen, die Sie beschreiben. Das Gericht wird daraus seine klaren Schlussfolgerungen ziehen. Jemand ist von außen hineingekommen. Also hat jemand Chuttur überrascht und niedergeschlagen, sonst hätte er sich verteidigt. Er war nicht bewaffnet, und Dhuleep war in der Zelle eingesperrt. Es musste einen Dritten geben. Gemäß den Nachforschungen von Busby kommt nur Tallis infrage. Alle anderen haben ein Alibi. Ich kann es noch gar nicht glauben, und ich wünschte, es wäre anders, aber es ist nun mal so. Es hat keinen Sinn, sich der Realität zu widersetzen. Tut mir leid.«
»Wissen Sie, ob Dhuleep auch verletzt war?«
»Anscheinend hat er auf der Flucht hier und da Blutspuren hinterlassen, aber nicht viele.
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