Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
da.«
Narraway hätte gern eine Antwort gehabt, etwas Mutiges oder Kluges gesagt. Mit quälendem Verlangen wünschte er, auch er könnte an das Unmögliche glauben, aber es gelang ihm nicht. Er tat das Einzige, was er ertragen konnte: Er log.
»Dann will ich auch an Wunder glauben«, sagte er leise. »Ich werde eins finden.«
Er blieb nicht länger. Er hatte alles gefragt. Mehr fiel ihm nicht ein. Keine Antwort half weiter. Jedes weitere Wort würde nur die Aussichtslosigkeit verdeutlichen. Er verließ das Gefängnis und ging hinaus in die Dunkelheit. Über ihm breitete sich der unendliche, mit Sternen funkelnde Nachthimmel aus. Der leichte Wind fuhr durch die Äste der wenigen Bäume, die sich wie schwarze Gitter vor dem glänzenden Licht abhoben. Und er fühlte sich eingeengt, angekettet und eingesperrt wie Tallis. Es gab kein Entrinnen.
Er ging eine ziemlich weite Strecke. Ihm war klar, dass er Oberst Latimer Bericht erstatten musste, aber er schob es so weit wie möglich hinaus. Seit er mit dem Fall betraut worden war, hatte er nichts Brauchbares herausgefunden. Um ehrlich zu sein, glaubte er nicht, dass ein zeitlicher Aufschub daran etwas ändern würde. Man würde nur das Unvermeidliche hinausschieben, das Elend aller verlängern, einschließlich dem von Tallis selbst.
Er drehte um und ging in Richtung Offizierskasino, wo sich, wie er wusste, Latimer abends aufhielt. Wahrscheinlich waren Busby und Strafford bei ihm, was die ganze Sache noch schlimmer machte.
Er ging an ein paar kleineren Gebäuden vorbei und hörte, wie jemand Nägel in Balken schlug. Er fragte sich, was da gemacht wurde. Möbel? Wurde ein Stuhl oder ein Tisch repariert? Oder ein Spielzeug hergestellt? Vielleicht ein kleiner Wagen mit Rädern? Er erinnerte sich vage an solch einen Wagen, den er als Kind besessen hatte. Es war nur fünfzehn Jahre her, dass er in dem Alter war, um mit so etwas zu spielen.
Ob wohl der kleine Junge der Witwe einen Wagen zu Weihnachten bekam? Oder bunte Bauklötzchen? Vielleicht könnte Narraway dafür sorgen. Er müsste das Geschenk ja nicht dem Jungen selbst geben; das könnte die Mutter verletzen, sie wäre ihm dann verpflichtet, und das wollte er nicht. Würde ein Wagen den Jungen überhaupt freuen? Sollte er es nicht einfach ausprobieren? Das klei ne Mädchen, Helena, hatte ihm die blaue Papierkette geschenkt. Sie war davon überzeugt gewesen, dass sie ihm gefiel, weil Helena selbst sie schön fand. Er müsste auch für sie ein Geschenk finden. Er würde jemanden fragen. Eine Frau müsste das wissen.
Er blieb stehen und klopfte an die Türe, hinter der das Hämmern zu hören war. Nach einiger Zeit kam ein Mann mit einem Lederschurz an die Tür. »Ja, Sir?«, fragte er höflich. Er hatte dunkle Haut, schwarze Haare: ein Inder.
»Sind Sie Schreiner?«
»Nein, ich repariere nur ab und zu etwas. Wenn Sie einen kaputten Stuhl haben, kann ich vielleicht helfen.«
»Also … was ich bräuchte, wäre ein kleiner Wagen aus Holz … für ein Kind.« Narraway kam sich irgendwie al bern vor.
Der Mann sah ihn erstaunt an. »Haben Sie einen Sohn? Sie möchten ein Geschenk für ihn, Sahib?«
»Nein … ja. Er ist nicht mein Sohn. Aber er hat seinen Vater verloren. Ich dachte nur …« Er war sich seiner Sache nicht mehr sicher.
»Das kann ich schon machen«, sagte der Mann leise. »Ich baue Ihnen einen. Kommen Sie in ein paar Tagen noch einmal vorbei. Ich habe viele kleine Holzstücke. Und rote Farbe. Es wird auch nicht viel kosten.«
»Danke«, erwiderte Narraway. »Ich bin Leutnant Narraway. Das wäre sehr schön. Ich komme wieder.«
Als er an der nächsten offenen Tür vorbeikam, hörte er drinnen eine Frau mit einer sanften, melodischen Stimme singen. Er hatte keine Ahnung, wer sie war, aber sie sang für jemanden, den sie liebte, da war er sich ganz sicher. Wahrscheinlich für ein Kind. Nur ungern ging er weiter, außer Hörweite, zum Offizierskasino.
Narraway war fast erleichtert, dass er Latimer nirgends sah, und wollte schon umkehren, als er Strafford und neben ihm Latimer entdeckte. Er zog seine Uniformjacke zurecht und straffte seine Schultern, dann ging er zwischen Tischen und den teilweise wackligen Stühlen durch, bis er vor Latimer strammstand.
»Sir.«
Latimer wandte sich ihm zu, als hätte er ihn genau in diesem Augenblick erwartet. Er freute sich genauso wenig wie Narraway über dieses Treffen.
»Sind Sie fertig, Leutnant?« Er sah blass und müde aus. Ganz vorsichtig hielt er ein Glas
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