Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
dann muss es jemand anderer gewesen sein! Um alles in der Welt, Mann, helfen Sie mir!«
»Was glauben Sie denn? Wie oft habe ich wach gelegen und nur darüber nachgedacht? Niemand mag ein Klatschmaul, aber ich würde den besten Schauspieler, der seine haarsträubenden Geschichten zum Besten gibt, übertrumpfen, wenn mir nur eine einfallen würde. Ich könnte mir vorstellen, dass Dhuleep etwas wusste, das seine Freiheit wert war, aber wem würde er dieses Wissen verkaufen? Latimer? Dann habe ich überlegt, ob er vielleicht ein Doppelspion war, für uns und für die Aufständischen. Vielleicht hat man ihn mit Absicht laufen lassen, damit er Lügen verbreitet. Alles, was Sinn oder auch keinen ergibt, habe ich mir durch den Kopf gehen lassen.« Er zuckte mit den Achseln. »Aber soweit ich weiß, war er einfach nur ein Sikh-Soldat, der loyal zu sein schien. Einige sind es, andere wiederum nicht. Wir können es uns nicht leisten, auf die Loyalen zu verzichten. Schauen Sie doch nur!« Er schwang seinen Arm, um das unermesslich weite Land außerhalb der Zelle und des Gefängnisses zu beschreiben. »Wir sind nur eine Handvoll Weißer, ein paar Zehntausende, einen halben Erdball von zu Hause entfernt, und ausgerechnet wir versuchen, einen verdammten Kontinent zu regieren. Wir sprechen ihre Sprachen nicht, wir verstehen ihre Religionen nicht, wir verkraften dieses verdammte Klima nicht, und wir sind gegen ihre Krankheiten nicht immun. Trotzdem sind wir hier und erwarten auch noch, dass man uns mag! Wir brauchen uns wirklich nicht zu wundern, wenn sie uns ein Messer in den Rücken stoßen. Gott stehe uns bei! Was sind wir doch für Idioten!«
»Das sagen Sie besser morgen nicht vor Gericht«, erwiderte Narraway trocken. Er war überrascht, wie ähnlich er die Dinge sah.
»Die Wahrheit darf eine gute Verteidigung nicht zerstören.« Tallis grinste. »Ich habe nichts zu meiner Verteidigung beizutragen, außer dass ich es nicht war. Und ich habe zum Teufel noch mal keine Ahnung, wer es war. Ihnen vertraue ich, weil mir gar nichts anderes übrig bleibt. Wenn Sie mich vor einem Monat gefragt hätten, ob ich an so etwas wie die Gerechtigkeit Gottes glaube oder an die Ehre des Menschen, hätte ich Sie ausgelacht, wahrscheinlich hätte ich auch einen schlechten Witz darüber gemacht.« Er zuckte mit seinen schmächtigen Schultern. »Wenn man an nichts mehr glaubt, kann man sich gleich erschießen. Stellen Sie das klar, dann geht es wenigstens schnell.«
Plötzlich wurde sein Gesichtsausdruck ganz ernst. Kein Lachen mehr; selbst die Ironie war verschwunden. »Ich habe unglaublichen Mut erlebt, Leute, die Schmerzen erleiden mussten, Verunstaltungen durch verlorene Körperteile hinnehmen mussten, Menschen, die für ihr Leben versehrt waren und sich trotzdem nicht beklagten. Sie behielten ihre innere Würde. Das hat nichts damit zu tun, dass man Körper und Geist beherrschen kann. Menschen empfinden Zuneigung zu ihren Nächsten, auch wenn sie wissen, dass sie selbst sterben werden. Sie behalten den Glauben, auch wenn alles keinen Sinn mehr ergibt, wenn alles vorbei ist, und sie sich dessen bewusst werden.«
Narraway wollte ihn dazu bringen zu schweigen, aber er konnte es nicht. Er musste einfach zuhören, ja er konnte nicht anders, als ihm zu glauben.
»Ich weiß, dass sie mich verurteilen werden, obwohl ich die Tat nicht begangen habe«, fügte Tallis noch hinzu und blickte Narraway dabei die ganze Zeit direkt in die Augen. »Aber ich habe immer noch den Glauben, dass Sie meine Unschuld irgendwie beweisen können. Ganz schön unfair, nicht wahr?« Er zeigte ein strahlendes, leuchtendes Lächeln , als ob er sich eine innere Heiterkeit bewahrt hätte, die er nicht loslassen wollte, gegen jede Vernunft. Er wollte die Realität nicht akzeptieren. »Sie sollten eines Tages Arzt werden, sich nach jeder Schlacht, jedem Gefecht das alles anschauen. Die Verletzten werden gebracht, einer nach dem anderen, Menschen, die zu Ihnen aufsehen in der Hoffnung, dass Sie sie retten, aber Sie werden es nicht können, es aber trotzdem versuchen. Etwas sollten Sie sich merken, Leutnant: Sie werden niemals sagen können, wer überlebt und wer nicht. Sie werden erfahren, dass es etwas Höheres gibt, etwas, das größer ist, als dass es der Verstand erfassen könnte. Ich glaube an das Unmögliche, im guten wie im schlechten Sinne. Ich habe das oft genug erlebt. Ich habe Chuttur Singh nicht getötet oder Dhuleep laufen lassen. Ich war nicht einmal
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