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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Whisky in seiner Hand. Es sah aus, als ob seine Finger es regelrecht liebkosten.
    »Ja, Sir.« Beide wussten sie, dass es eine Lüge war, aber es war die Antwort, die Latimer erwartete.
    »Sie haben mit Tallis gesprochen?«, fuhr Latimer fort.
    »Ja, Sir.«
    »Und? Ist etwas dabei rausgekommen?«
    »Nicht viel.«
    Latimer lächelte; einen Augenblick wurden seine Gesichtszüge dadurch weicher. »Mögen Sie ihn?«
    Narraway war auf diese Frage nicht vorbereitet. »Ah … ja, Sir. Mir wäre es anders lieber gewesen. Aber ich konnte nicht umhin.«
    »Hätten Sie meine Frage verneint, hätte ich Ihnen nicht geglaubt«, seufzte Latimer. »Wenn Sie in der Armee weiterkommen wollen, müssen Sie sich etwas gut merken, Narraway: Sie müssen wissen, wann Sie Ihren Vorgesetz ten anlügen können und wann nicht. Manchmal kennen wir zwar die Wahrheit, aber wollen sie nicht hören.«
    »Tut mir leid, Sir. Ich wusste nicht, dass dies eine solche Frage war.«
    »Ist es auch nicht. Sie haben das völlig richtig eingeschätzt. Er ist sehr sympathisch. Wir brauchen hier seinen Humor und seine Spontaneität, seine Fähigkeit, auch in ausweglosen Situationen die Hoffnung nicht aufzugeben. Zum Teufel noch mal, ich wünschte mir wirklich, jemand anderer wäre es gewesen, bloß nicht er. Sie können ihn auch nicht retten, aber sehen Sie um Gottes willen zu, dass es so aussieht, als ob Sie es versuchen.«
    »Ja, Sir.« Narraway kam sich albern vor, immer nur zuzustimmen, aber es gab wirklich nichts hinzuzufügen.
    »Busby wird ’s Ihnen schwer machen. Seien Sie darauf vorbereitet und verlieren Sie nicht die Beherrschung, egal, was er sagt. Er hat bei diesem Hinterhalt einen langjährigen Freund verloren. Und mit Tierney hat er auch sehr lange gedient. Das ist der Mann, der sein Bein verloren hat.«
    »Ja, Sir, ich weiß. Ich habe mit ihm gesprochen. Ein guter Soldat.«
    »Ach, haben Sie?« Latimer sah erstaunt drein. »Konnte er Ihnen etwas Nützliches sagen?«
    »Nein, Sir. Dachte nur, ich sollte auch mit ihm sprechen.«
    »Nun, Sie sollten jetzt erst einmal durchschlafen – soweit Ihnen das gelingt.«
    »Ja, Sir, gute Nacht, Sir.«
    Latimer hob die Hand und deutete einen Gruß an. »Gute Nacht, Leutnant Narraway!« Und dann fragte er plötzlich: »Haben Sie sich schon einen Reim auf die ganze Angelegenheit gemacht?«
    Narraway spürte, wie er innerlich fröstelte. »Nein, Sir, aber ich werde es versuchen.«
    »Genau diese Lüge wollte ich hören«, erwiderte Latimer mit einem matten Lächeln.
    Narraway konnte nicht einschlafen. Er lag auf seinem Feldbett. Es war eigentlich bequem, auf jeden Fall bequemer als die vielen anderen Plätze – unter anderem der nackte Boden –, auf denen er im letzten Jahr genächtigt und doch gut geschlafen hatte. Aber jetzt ließ ihn seine Ruhelosigkeit keinen Schlaf finden. Er wälzte sich hin und her, manchmal hielt er die Augen geschlossen, manchmal starrte er zur Decke, die vom Mondlicht, das durch das Fenster drang, erhellt wurde. Immer wieder erschien ihm Tallis’ Gesicht, egal, wie er sich bemühte, es wegzuschie ben. Eine Bürde, der er nicht entkam und die ihn zu ersticken drohte.
    Nicht nur Narraways Karriere, auch die Ehre des ganzen Regiments stand auf dem Spiel, der Glaube an die Gerechtigkeit als etwas Tadellosem und Großartigem, das jeder Einzelne anstreben sollte. Allerdings gab es das gar nicht. Einige lebten danach, andere kannten nur das Wort.
    Narraway war keiner der Soldaten, die Kanpur von der Belagerung befreit hatten. Er war weiter im Norden stationiert gewesen. Aber er hatte zumindest etwas von den schrecklichen Ereignissen gehört. Was die Soldaten da gesehen hatten, hatte sie beinahe um den Verstand gebracht. Die Rache war entsetzlich. Keiner hatte sich um Gerechtigkeit geschert. Mord wurde Hinrichtung genannt, und überall lagen Tote. Das konnte Tallis doch nicht entgangen sein.
    Hatte Tallis denn nicht die erschütterten Gemüter der Männer erkannt, den leeren Ausdruck ihrer Augen, der von mehr herrührte als nur von Müdigkeit? Die immer wieder abschweifende Aufmerksamkeit, die unkoordinierten Bewegungen, als ob ihnen das Gefühl zu allem verloren gegangen war? Schrecken und Trauer waren einfach zu groß, als dass man sich in ein paar Monaten davon hätte erholen können. Vielleicht würden sie niemals mehr dieselben sein wie zuvor.
    Er jedenfalls, der unmittelbar entscheiden musste, was er in wenigen Stunden bei Gericht vortragen wollte, wagte es jetzt nicht, an seine

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