Der Weihnachtswunsch
der Kummer ihm die Brust zusammenschnürte. Er hatte gelogen. Er hatte Lincoln angelogen. Er hatte sich selbst belogen. Der Zeitungsartikel und die Kommentare im Web machten ihm zu schaffen. Sehr sogar.
Wie war er an diesen Punkt gekommen? Wann hatte er beschlossen, so zu sein? Jemand, der von Fremden ebenso wie von denen, die ihn am besten kannten, gehasst wurde; von seiner Frau getrennt, von seinem Sohn abgelehnt. Und sein einziger Freund, Lincoln, sein Rechtsanwalt, bekam ein ansehnliches monatliches Pauschalhonorar. Die Wahrheit war, dass er, Kier, allen anderen mehr glich, als er wollte oder vorgab. Auch er wollte geliebt werden. Und er wollte, dass man ihn vermisste.
Kier stand aus dem Bett auf, warf sein nass geschwitztes Shirt auf den Boden und ging nach unten. Er folgte seiner Alltagsroutine, machte sich Toast und Kaffee und holte die Zeitung von draußen herein. Er setzte sich an den Küchentisch und las beim Essen; weniger aus Interesse, sondern eher, um sich von seinen schmerzlichen Gedanken abzulenken.
Er blätterte die Zeitung durch und hielt plötzlich bei den Nachrufen inne, weil sein Auge auf einen Namen gefallen war: James Kier. Er setzte die Tasse ab. In der zweiten Spalte von links stand sein Name als dritter von oben. Nur hatten sie es diesmal richtig verstanden: Es handelte sich um einen anderen James Kier als den Bauunternehmer. Man sah ein kleines Foto von dem Mann, das nicht viel größer als eine Briefmarke war. Kier fand, dass der Porträtierte nicht sonderlich gut aussah. Er bekam allmählich eine Glatze und hatte sich die verbliebenen Haare über die kahle Stelle auf seinem Schädel gekämmt. Sein Gesicht war schmal und unscheinbar. Dennoch war etwas an dem Gesichtsausdruck, das ihn attraktiv machte. Der Mann wirkte glücklich und freundlich. Kier las den Nachruf.
James A. Kier, »Jak«, Sohn von Dick und Bette (Beck) Kier, wurde am 26. September 1962 in Arcadia, Kalifornien, geboren. Er verschied am Freitag im Alter von 47 Jahren.
James verlebte eine glückliche Kindheit in Kalifornien, wo er sich im Basketball hervortat und in dem Team spielte, das an den kalifornischen Endausscheidungsspielen teilnahm. Im Jahre 1979 machte er seinen Abschluss an der Arcadia High School. Im April 1982 heiratete James die Liebe seines Lebens, Martha Elizabeth Long aus Monrovia, Kalifornien.
James zog mit seiner Familie nach Utah, nachdem seine Mutter erkrankt war, und er betreute sie liebevoll bis zu ihrem Tod.
Über zwei Jahrzehnte arbeitete James als Schulbusfahrer für den Wasatch School District, und drei Jahre hintereinander wurde er von den Kindern zum »besten Fahrer der Welt« gewählt. Er dachte an ihre Geburtstage, und in seiner Gegenwart wurde nie ein Kind geärgert oder schikaniert. Sein Lieblingsspruch lautete: »Nicht in meinem Bus!« Er war für viele Kinder der beste Freund, und sie vertrauten ihm oft ihre größten Geheimnisse an.
James war ein hervorragender Grillmeister. Er liebte das Fischen und das Zusammensein mit seiner Familie und mit seinen Freunden. Seine bescheidene, warmherzige und offene Art wurde von allen wahrgenommen, die ihn kannten. Sie werden ihn vermissen.
Zur Pflege seines Andenkens sind seine Frau Martha und seine drei Kinder zurückgeblieben: Dan Kier und seine Frau Linda, Margie Potts und ihr Mann Joel Eric sowie Bonnie Kier; ferner James’ Schwester Ebony Brooke in Pasadena, Kalifornien.
Vor James sind seine Eltern und sein Bruder Tom gestorben.
James’ zu Ehren wird am Sonntag von 11 bis 12 Uhr eine Trauerfeier in seinem Haus in der 3540 Polk Avenue abgehalten. Die Öffentlichkeit ist eingeladen. Die Familie bittet, von Blumenkäufen abzusehen und stattdessen in James’ Namen dem Fonds zur medizinischen Versorgung von Kindern des Primary Children’s Medical Center, seinem Lieblingswohlfahrtsverein, eine Spende zukommen zu lassen.
Kier blickte auf seine Uhr. Es war Viertel vor zehn. Vielleicht hatte es etwas mit seinem Traum zu tun, vielleicht auch nicht, aber aus unerfindlichen Gründen hatte er das Gefühl, dass er zu der Trauerfeier für diesen Mann gehen müsse. Er riss den Artikel aus der Zeitung, ging wieder nach oben, duschte, zog sich einen Anzug an, band sich eine Krawatte um und brach zum Haus des anderen James Kier in der Polk Avenue auf.
Fünfzehntes Kapitel
Die Polk Avenue war eine Sackgasse in einem ärmlichen Teil von Rose Park. Die schmale Straße war mit Automobilen gesäumt, und Kier musste ein paar Blocks entfernt in einer
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