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Der Weihnachtswunsch

Der Weihnachtswunsch

Titel: Der Weihnachtswunsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Paul Evans
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Straße mit
    heruntergekommenen und zugenagelten Häusern parken. Er hoffte, dass sein Wagen bei seiner Rückkehr noch da sein würde.
    Das Heim des anderen James Kier war ein winziges, einstöckiges Ranchhaus mit losen Dachziegeln. Auf dem Dach thronte ein wackeliger Plastikweihnachtsmann mit vier Rentieren, und im Vorgarten ragten große, mit Lichterketten umwickelte Plastikzuckerstangen aus dem Schnee. Das Haus war aus braunen Ziegeln erbaut, hatte braun-weiß gestreifte Aluminiummarkisen und war von verwilderten Feuerdornsträuchern umgeben.
    Was Kier am meisten wunderte, waren die zahlreichen Menschen – Kinder, Teenager, junge und alte Erwachsene –, die sich auf dem Weg vor dem Haus aufgereiht hatten und darauf warteten, dem Toten die letzte Ehre erweisen zu können. Kier stellte sich ans Ende der Schlange.
    Während er wartete, fielen ihm drei Dinge hinsichtlich des anderen James Kier auf. Erstens waren die zahlreichen Menschen, die gekommen waren, um Abschied zu nehmen, nicht nur hinsichtlich ihres Alters bemerkenswert unterschiedlich. Das ältere Ehepaar hinter ihm wirkte elegant und wohlhabend, und aus der Unterhaltung der beiden entnahm er, dass sie hier waren, weil der Verstorbene nett zu ihrer geistig behinderten Tochter gewesen war, die er jeden Tag in seinem Bus mitgenommen hatte.
    »Er hat direkt bei sich vorne im Bus einen Sitz für sie reserviert«, erzählte die Frau jemandem hinter ihr. »Die anderen Kinder haben ihn ›Rachels Sitz‹ genannt. Weil Mr Kier sie respektiert hat, taten sie das ebenfalls.«
    Im Gegensatz dazu war der junge Mann, der vor Kier stand, erst etwa sechzehn oder siebzehn; er trug trotz der Kälte lediglich ein langärmeliges T-Shirt. Sein Haar war schwarz gefärbt, und er hatte Piercings an Nase und Ohr. Auf dem Nacken prangte das Tattoo einer Schlange, das von dunklen, geflochtenen Halsbändern teilweise verdeckt war. Er trug ein Buch unter dem Arm, aber Kier konnte den Titel nicht erkennen.
    Die zweite Sache, die ihm auffiel, war, dass die jungen Leute (und es waren viele) den verstorbenen Kier liebevoll Jak oder Mr Jimbo nannten.
    Drittens zeigten alle, unabhängig davon, wer sie waren oder woher sie kamen, ein deutlich zu spürendes Gefühl von Verlust.
    Kier blickte erstaunt um sich. Dieser Knabe war doch bloß ein Busfahrer, dachte er wieder und wieder.
    Das Innere des Hauses war ebenso ärmlich wie sein Äußeres. Der Eingang war mit einer Hummelfigur, mit Plastikpflanzen und billigen Drucken von Katzen vor dem Eiffelturm geschmückt – die Art von Kunst, die entweder von einem Garagenflohmarkt oder aus einem Sonderverkauf stammte. Über der Eingangstür hing ein Holzschild mit der Aufschrift: »Alles, weil sich zwei Menschen ineinander verliebt haben.«
    Es dauerte rund eine halbe Stunde, bis Kier das Wohnzimmer erreichte, wo sich die Familie des Verstorbenen aufgereiht hatte, um die Beileidsbekundungen entgegenzunehmen. Am Anfang der Reihe stand eine dicke Frau mit toupierter Frisur. Es war offenkundig, dass sie die hinterbliebene Witwe war.
    Der junge Mann, der vor Kier in der Schlange gestanden hatte, begann zu reden. Er sprach leise und mit einem leichten Lispeln, das, wie Kier vermutete, durch den Piercing-Stift, der unter seiner Lippe hervorragte, verschlimmert wurde.
    »Mrs Kier, ich wollte Ihnen sagen, dass …« Die Stimme des Jugendlichen versagte plötzlich. Schließlich stieß er hervor: »Mr Jimbo hat mir das Leben gerettet.«
    Sie sah ihn freundlich an und nahm seine Hand in die ihre. »Bitte, erzähl mir davon.«
    »Es war ein wirklich schlimmer Tag. Meine Mom hatte uns gerade verlassen, und ich wurde vor allen anderen von einem Lehrer angeschrien. Danach wurde ich von ein paar Football-Spielern zusammengeschlagen, und dann haben sie mich in eine Mülltonne gestoßen und mich mittags über den Schulhof gerollt. Ich hatte beschlossen, mich zu erhängen.
    Aber als ich aus dem Bus stieg, rief Mr Jimbo: ›Wart mal, Sportsfreund.‹ Er fragte mich, was los ist. Ich sagte: ›Nichts.‹ Aber er sah mich an, als würde er alles wissen. Er sagte: ›Das Leben ist manchmal ganz schön mies, nicht?‹ Ich antwortete: ›Ja.‹ Er meinte: ›Ich weiß. Manchmal scheint es sich nicht mehr zu lohnen weiterzuleben. Aber weißt du, was? Ich bin nur ein Busfahrer. Ich werde nie reich sein, und den ganzen Tag über hupen mich die Leute an. Niemand will aufwachsen und dann so werden wie ich. Aber ich habe ein paar Dinge, für die es sich zu leben lohnt. Und die

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