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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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etwas aus der Oase sprang, dreißig Meter entfernt. »Hinter dir!«
    Kappie war nur um ein kleines bißchen näher bei den Wilden als beim Magnumauto aufgetaucht, doch dieser Unterschied erwies sich als fatal. In Sekundenschnelle war sie eingekreist. Im Bewußtsein, daß sie nur zwei Möglichkeiten hatte – hilflos zu schreien oder vernünftige Argumente vorzubringen –, nahm sie eine Pose ein, die ungefähr besagte: Ich bin nicht bereit, ein fünf Jahre langes kostspieliges Studium aller Tugenden, die dem kulturellen Relativismus anhaften, in einem einzigen Augenblick zum Teufel zu jagen. »Hört auf!« Die Wilden hörten nicht auf. »Wir stammen von derselben Rasse ab!« Sie sprangen ihr an die Kehle. »Habt ihr denn alles vergessen? Wir sind eine Familie…« Und dann konnte sie nicht mehr sprechen, sondern nur noch Blut spucken.
    Burne zielte sorgfältig mit seinem Fermentgewehr, aber als er das Relais traf, war nur ein dumpfes elektronisches Wimmern zu hören.
    »Steig ein!« schrie Luther. »Du kannst sie nicht retten.«
    Burne rammte die unbrauchbare Waffe in seinen Gürtel. Er kehrte zum Magnumauto zurück, befahl Francis, den Fahrersitz frei zu machen, und schloß die Sichtblase. Die Wilden folgten ihm nicht. Kappies Leiche erforderte ihre totale Aufmerksamkeit.
    Francis kämpfte darum, zu beobachten, was er nicht sehen wollte, zu ignorieren, was er sich wahrzunehmen zwang. Ein Wilder kniete am Boden, bohrte sein Werkzeug in ihr Gehirn. Und als das Magnumauto davonraste, sah Francis, wie sie Teile der Großhirnrinde herausholten, Knochenmarkstücke, Kleinhirnklumpen, die ganze wunderbare Maschinerie, die einst Kappies formidables Gehirn ausgemacht hatte. Das Blut in seinem Mund mischte sich mit Erbrochenem.
    Und so endete Francis Lostwax’ dritte Begegnung mit dem Frevel der Gewalt.
     
    Bald waren die Wilden weit hinter ihnen zurückgeblieben, die Oase verschwand, und der Rest des Tages brachte ihnen nichts weiter ein als Sand und brennenden, qualvollen Schmerz. Luther verbannte seine Kamera in den Gepäckraum des Magnumautos und sammelte keine Steine mehr. Burne achtete nicht mehr auf sein Fermentgewehr, und Francis hörte auf, Wörter zu benutzen.
    Sie parkten den Wagen schon lange bevor die Sonne unterging, denn sie wußten, daß es Stunden dauern würde, das Magnumauto zu tarnen und sich in den Dünen zu verschanzen. Sobald sie sich an einer geeigneten Stelle verkrochen hatten, erwärmte jeder Mann seine Mahlzeit mit der unmerklichen Hitze einer Kelvin-Hülse, aß direkt aus der Konservendose und vergrub die Abfälle einen Meter tief. Sie lösten einander planmäßig ab, um nach den Wilden Ausschau zu halten, und weinten unplanmäßig.
    Der Verlust Kappies war wie eine Fermentkugel, die einen ins Bein getroffen hatte. Man bekommt die volle Kraft des Schmerzes nicht sofort zu spüren. Zuerst fragt man: >Ist das alles?< Und dann explodiert man.
    Man dürfte dem Tod einfach nicht erlauben stattzufinden, dachte Francis. Erst Barry – und jetzt Kappie… Seine Lebensgeister konnten es nicht ertragen, zwei so wichtige Personen zu verlieren. Es wäre viel besser, wenn nur die Nebencharaktere, die Statisten, stürben.
    Um Mitternacht war Francis von der vollen Wucht seines Kummers getroffen worden, dann hatte er neue Kräfte gesammelt, und nun dachte er nach. Er mußte so viele verlorene Gedanken zusammensuchen, daß er nicht mehr schlafen konnte. Burne hielt gerade Wache.
    »Burne?«
    Ein Grunzlaut drang matt aus dem Westen, gefolgt von einer leisen Frage. »Ja, Lostwax?«
    »Ich kann nicht schlafen.«
    »Tut deine Lippe noch weh? Ich könnte die Wunde nähen.«
    »Nein, wenn ich nicht lache, ist es zu ertragen. Und ich habe nicht vor, in den nächsten drei Jahren zu lachen.« Er kroch aus seiner Grube. Burne saß da, zwischen blitzenden Fermentgewehrteilen, die ihn umgaben wie die Sonnen der Andromeda. Bevor die Nacht zu Ende war, würde er die Waffe wieder zusammengesetzt haben und versuchen, das zimperliche Luminon zu überlisten.
    »Beweg dich nicht!« warnte Burne. »Und sprich leise!«
    »Burne, ist es ratsam, die Suche nach dem Cäsium fortzusetzen?«
    »Wenn wir ein Ziel vor Augen haben, werden wir einen klaren Kopf behalten.«
    »Wenn wir zum Schiff zurückkehren werden… Wir können einen weiten Bogen um die Oase machen und dann in der Darwin warten, bis uns Carlotta nahe genug an die Nerde herangebracht hat, so daß wir eine Nachricht losschicken können.«
    »Das würde ein halbes Standardjahr

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