Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
hatten, erlaubte sie sich, über Thomas’ Behauptung nachzudenken, er sei
ihretwegen zu dem Festival gekommen. Das entsprach wohl nicht ganz der Wahrheit – es war wohl auch das Bedürfnis, wieder in eine Welt einzutauchen, die er
hinter sich gelassen hatte –, aber der Anteil, der vielleicht der Wahrheit
entsprach, beunruhigte sie. Sie wollte kein so übertriebenes Vorspiel.
Das Publikum tröpfelte spärlich herein und füllte die Reihen der
Galerie nur lückenhaft, was, von der Bühne aus gesehen, entmutigend wirken
konnte, wie Linda wußte. Inbrünstig hoffte sie auf ein volles Haus für Thomas.
Es gab Studenten mit Rucksäcken, einige Liebespaare, einige Frauen wie sie
selbst, die in fröhlichen kleinen Gruppen beisammensaßen. Die zukünftigen
Dichter kamen einzeln herein, Bittsteller, die nach Inspiration suchten, oder
zumindest nach einem Agenten. Aber dann ging eine bislang unbemerkte oder
verschlossene Seitentür auf, durch die Leute hereinströmten, so daß sich Reihe
um Reihe füllte und die Lücken auf der Galerie geschlossen wurden.
Seltsamerweise verspürte Linda mütterlichen Stolz (oder war es der Stolz einer
Ehefrau? Sie hatte wenig Übung darin; Vincent war bereits beim Gedanken an eine
öffentliche Rede in Panik geraten). Der beachtliche Zustrom entwickelte sich zu
einer Flut, und Türen wurden von Menschen offengehalten, die nicht weiter
vorwärts kamen. Thomas’ Jahre des selbsterklärten und notwendigen Rückzugs
hatten die Neugier angefacht. Es war sozusagen ein historischer Augenblick,
wenn auch von provinzieller und begrenzter Art.
Neben ihr tuschelte ein jüngeres Paar über das berühmte Schweigen
des Dichters.
»Seine Tochter ist auf einem Boot umgekommen.«
»O Gott. Ist das wahr?«
»Sie wurde über Bord gespült. Sie war erst fünf. Oder vielleicht
sechs.«
»Mein Gott.«
»Man sagt, er habe danach einen Zusammenbruch erlitten.«
»Das habe ich gelesen, glaube ich.«
Das Saallicht ging aus, und jemand hielt eine gelehrte
Einführungsrede, in der auf den Rückzug, wenn auch nicht auf dessen Ursache,
angespielt wurde. Die Einführung wurde Thomas nicht gerecht, doch sie unterstellte
eine einzigartige Leistung, die zu würdigen sei, selbst wenn er seit Jahren
nichts mehr veröffentlicht habe. Der Scheinwerfer zeichnete wenig
schmeichelhafte Schatten auf das Gesicht des Redners am Podium. Bald würde sie
selbst dort stehen.
Als Thomas aus der Seitenkulisse trat, senkte sich Stille übers
Publikum. Thomas bewegte sich mit bewährter Autorität, sorgsam darauf bedacht,
nicht zu den Hunderten von Gesichtern hinaufzusehen. Als er das Podium
erreichte, griff er nach einem Glas Wasser, und sie merkte (und hoffte, daß es
den anderen entging), daß seine Hand zitterte, während er das Glas langsam zum
Mund führte. Hinter ihr sagte jemand: »Wow, ist der alt geworden«, Worte
(welche Kraft), die selbst die Besten von ihnen klein machten.
Thomas patzte schrecklich am Anfang, was sie vor Mitgefühl erröten
ließ, eine Röte, die sich, das fühlte sie, über ihren Hals bis hinter die Ohren
ausbreitete. Er wirkte unvorbereitet. In der zunehmenden Stille blätterte er
umständlich mit dem Zeigefinger die Seiten um, so daß das Papier wie
Zwiebelschalen raschelte. Linda vernahm ein erstauntes Gemurmel aus dem
Publikum, einen leisen Unmut der Enttäuschung. Doch das Blättern ging weiter.
Und dann, als sie dachte, sie hielte es nicht mehr aus, als sie den Kopf beugte
und die Finger an die Augen legte, begann Thomas zu lesen.
Seine Stimme war tief und volltönend, unbeschadet der Jahre, die
sein Gesicht verwüstet hatten. Es hätte die Stimme einer feierlichen
Verkündigung sein können, der Baß eines Opernsängers. Das Publikum schien den
Atem anzuhalten, um kein Wort zu verpassen. Sie strengte sich an, die
verblüffenden Sätze zu verstehen, um anschließend in einen Abgrund von Bildern
zu taumeln, die seltsam wohltuend waren, auch wenn ihre schreckliche Bedeutung
nicht zu verkennen war: »Wasser wie Seide«, las er,
und »Bett aus Sand«. »Die Mutter gebeugt, ein zertretener
Halm.« Das Haar in Lindas Nacken sträubte sich, und Kälteschauer liefen
ihr über die Haut. Sie schlang die Arme um sich und vergaß das Publikum. Diese
Mischung aus verwirrtem und ergebenem Schmerz war kaum zu fassen. Noch nie war
ihr so deutlich zu Bewußtsein gekommen – und den Menschen um sie ging es
sicherlich nicht anders –, daß sie sich in der Gegenwart von Größe befand. Er
las aus den
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