Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
Geschichte, wegen der Bestätigung der eigenen
Vergangenheit. Gedanken an etwas Größeres waren ihr unmöglich; sie gingen ihr
in letzter Zeit gegen den Strich, gegen die Natur.
    »War deine Ehe gut?« fragte er.
    Niemand stellte ihr heute noch solche Fragen. Es hatte unbestreitbar
etwas Erfrischendes an sich, sie beantworten zu müssen.
    »Ich glaube, es war eine wundervolle Ehe.« Sie wußte nichts über
Thomas’ zweite Ehe mit der Frau namens Jean, nur von dem entsetzlichen Ende und
von den Nachwirkungen. »Wir hatten viel Spaß miteinander. Ich erinnere mich,
daß ich nach Vincents Tod dachte: ›Wir hatten viel Spaß.‹ Und kaum unglückliche
Zeiten.«
    »Das freut mich.«
    »Aber niemand kommt unbeschadet durchs Leben«, sagte sie. Und sie
fragte sich: Stimmte das? Hat man mit zweiundfünfzig ein unbeschadetes Leben?
»Vincent schien nie zu leiden, und ich fand das ansteckend. Das Leben war
normaler, weniger belastend als früher.«
    Als mit dir, hätte sie hinzufügen können.
    »Grund genug, jemanden zu lieben.«
    »Wir waren gerade von unserem zukünftigen Sommerhaus in Maine
zurückgekommen. Wir waren für einen Tag hinaufgefahren, um den Bauunternehmer
zu treffen. Es sollte ein tolles Haus werden – zu toll für uns. Nach
jahrelangem Sparen sollte es endlich Wirklichkeit werden. Wir bedauerten nur,
daß wir es nicht gebaut hatten, als die Kinder noch kleiner waren, aber wir
dachten bereits an die Enkelkinder.« Sie hielt inne, als müßte sie Atem holen,
aber tatsächlich deswegen, um den Ärger niederzukämpfen, der sie plötzlich
gepackt hatte. »Ich ging zum Strand und ließ ihn im Haus zurück. Als ich
zurückkam, lag er auf dem Boden, von Orangen umgeben.«
    »Ein Herzanfall?«
    »Ein schwerer Schlaganfall.« Sie stockte. »Es hatte keine Anzeichen
dafür gegeben. Er war erst fünfzig.«
    Thomas legte seine Hand auf die ihre, die sich beim Erzählen der
Geschichte bewegt hatte. Seine Hand war kalt, die Handfläche wie rauhes Papier,
trotz der Schriftstellerfinger. Er berührte sie unbeholfen, mit der Geste eines
Mannes, der nicht daran gewöhnt ist, andere zu trösten.
    »Es ist eine so große Überraschung, dich zu sehen«, sagte sie. »Ich
wußte von nichts. Ich hatte das Programm nicht gelesen.«
    »Wärst du gekommen, wenn du es gewußt hättest?«
    Die Frage war wie ein Tunnel mit einem Dutzend versteckter Abteile.
»Die Neugier hätte mich vielleicht mutig gemacht.«
    Thomas ließ ihre Hand los und nahm eine Packung Zigaretten heraus.
Mit einer Reihe von Bewegungen, die Linda zugleich uralt und vertraut vorkamen,
zündete er eine Zigarette an, zupfte sich einen Tabakbrösel von der Lippe und
stieß den dünnen blauen Rauch aus, der in der feuchten Luft stehenblieb wie
eine sich langsam auflösende Schrift. Es wäre natürlich sinnlos, seine
Gesundheit anzusprechen. Thomas würde höchstwahrscheinlich antworten, er habe
bereits zu lange gelebt.
    »Bist du jetzt erstaunt, wenn ich dir sage, daß ich deinetwegen
gekommen bin?« fragte er.
    Sie war mehr als überrascht, und deshalb schwieg sie.
    »Ja, es hat auch mich überrascht«, sagte er. »Aber so war’s eben.
Ich habe deinen Namen gesehen und gedacht … Nun, ich weiß nicht, was ich dachte.«
    Hinter ihnen ertönte das Pfeifsignal einer Fähre oder eines
Schleppkahns.
    »Ich habe eigentlich Hunger«, sagte Thomas.
    »In einer halben Stunde beginnt deine Lesung.«
    »Damit muß ich für das Vergnügen bezahlen.«
    Linda sah ihn an und lachte.
    Thomas, der Gentleman, stand auf und nahm ihren Arm. »Ich denke, wir
schulden uns danach noch ein Abendessen.«
    »Zumindest das«, sagte Linda freundlich.
    Wie Menschen, die ganz von Liebe oder Angst gefangengenommen
sind, gingen sie los, ohne sich an den Weg zu erinnern, und als das Theater in
Sicht kam, rannten sie fast. An der Tür trennten sie sich – mit den üblichen
guten Wünschen von Lindas Seite und der obligatorischen Grimasse von seiten
Thomas’ –, und tatsächlich schien er leicht zu erbleichen, als Susan Sefton auf
ihn zukam und ihm eindringlich klarmachte, daß die Lesung in zehn Minuten
begänne.
    Es war ein steil ansteigender Raum, der früher vielleicht als
Vorlesungssaal gedient hatte, mit Sitzreihen, die sich von einem Podium aus wie
Radspeichen ausbreiteten. Linda zog ihren Regenmantel aus und drückte ihn auf
ihrer Lehne zusammen, so daß aus dem Stoff ein schwacher Geruch von Synthetik
aufstieg. Allein jetzt, anonym zwischen zwei Fremden, die sich neben sie
gesetzt

Weitere Kostenlose Bücher