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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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um ihr Haar und ihr Gesicht. Thomas
ging mit leicht hängenden Schultern, die Hände in den tiefen Taschen seines
Trenchcoats vergraben. Seinen Gürtel hatte er locker geknotet, eines der Enden
hing länger herunter als das andere. Seine Schuhe waren seit längerem nicht
geputzt worden. Er war nicht aus Armut so ungepflegt, das wußte sie; es war
einfach mangelnde Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit eines anderen oder die eigene.
    »Du lebst noch immer in Hull«, sagte sie.
    »Ja.«
    »Und wie geht’s Rich?«
    »Ihm geht’s gut. Er ist verheiratet und hat zwei Jungen. Er hat
übrigens eine Ärztin geheiratet. Die Jungen sind großartig.«
    Sie konnte sich nicht vorstellen, wie Thomas es schaffte, mit den
Kindern anderer Leute zu spielen oder auch nur mit ihnen zu reden. War der
Schmerz noch immer gegenwärtig? Gäbe es eine oder fünf gemeinsame Stunden, während
deren er einfach – und wohltuenderweise – vergessen würde?
    »Ich sehe deine Tante gelegentlich«, sagte Thomas. »Sie versucht
immer, so zu tun, als würde sie mich nicht kennen.«
    »Kannst du ihr das verübeln?«
    »Nein, natürlich nicht. Ich mache inzwischen niemanden mehr
verantwortlich, nur noch mich selbst. Wahrscheinlich ist das ein Fortschritt.«
    Der Wind war eisig an ihrem Hals. Sie hielt die Revers ihres
Regenmantels zusammen. »Ich werde dich nicht nach deiner Frau fragen«, sagte
sie. »Obwohl ich es gern täte.«
    »Du meinst Jean?«
    Sie nickte und wußte, daß sie nicht über Regina sprechen konnten.
Vielleicht nie.
    »Oh, ich kann über Jean sprechen.« Er schien sich von seiner
Erregung im Restaurant erholt zu haben. Linda stellte sich vor, daß der Schmerz
möglicherweise in ganz willkürlichen Formen auftrat: in manchen Momenten
unerträglich, dann wieder nur in Form einzelner Teile einer schrecklichen
Geschichte. »Ich gebe ihr heute keine Schuld mehr«, fügte er hinzu. »Ich sagte
es schon. Sie war eine gute Frau. Wahrscheinlich ist sie das immer noch.«
    »Du siehst sie nicht?«
    »O Gott, nein. Ich glaube, das könnte keiner von uns ertragen. Nach
etwa einem Jahr ist sie ins Landesinnere gezogen, nach Indianapolis, wo sie
ursprünglich herstammt. Dort ist es sicherer, denke ich. Weit und breit kein
Ozean. Ich schätze, sie ist immer noch allein. Ja, ich weiß, daß sie es ist.
Sie schreibt Rich gelegentlich.«
    Und warum quälte sich Thomas noch immer mit dem Ozean ab? hätte sie
fragen können.
    Sie waren an einem Industriepark oder etwas Ähnlichem angelangt. Sie
erinnerte sich an einen Weihnachtstag vor Jahren, als sie und Thomas durch die
leeren Straßen von Boston geschlendert waren, die einzigen Menschen in einem
verlassenen Universum. Aber dann kam ihr ein bedrückender Gedanke: Obwohl sie
sich an den Tag erinnern konnte – an das Gefühl endloser verfügbarer Zeit, an
eine verheißungsvolle Zukunft, die scheinbar hinter jeder Ecke wartete, an die
Klarheit der Luft –, spürte sie nichts davon. Und sie stellte fest, daß diese
Unfähigkeit, die Vergangenheit zu spüren, sie sehr störte. Es war tatsächlich
beunruhigend, von der realen Struktur seines Lebens so weit entfernt zu sein.
    Ihr Rock engte sie beim Gehen ein. Sie ruinierte ihre Schuhe. Neben
sich konnte sie Thomas’ Hitze spüren, sogar in dieser unwirtlichen Kälte. Seine
physische Gegenwart war ihr vertraut und gleichzeitig doch fremd. All seine
Zellen waren inzwischen anders, hatten sich dreimal erneuert.
    »Unterrichtest du«, fragte er.
    »Ja.« Sie nannte das College. »Teilzeit. Mein Mann ist vor zwei
Jahren gestorben und hat Geld von einer Lebensversicherung hinterlassen.«
    »Das wußte ich nicht. Tut mir leid.« Er, der besser als jeder andere
wußte, wie nutzlos Mitleid ist. »War er lange krank?«
    »Nein. Es kam ganz plötzlich.«
    Thomas neben ihr schien eher zu springen als zu gehen.
    »Nach seinem Tod habe ich angefangen, viel häufiger auf Lesereisen
zu gehen«, sagte sie. »Ich habe festgestellt, daß ich in Hotelzimmern nicht so
oft an Vincent denke.«
    Sie waren an einer Bank angelangt. Er machte ein Zeichen, sie sollte
sich setzen. Ihre Hände steckten in den Taschen ihres Regenmantels, und sie zog
sie nun heraus und faltete sie im Schoß. Das Wochenende lag vor ihr, deutlicher
umrissen als noch ein paar Stunden zuvor. Sie wußte, in einem Jahr dächte sie
vielleicht: ›Das war das Wochenende, als ich …‹ Schließlich war es bedeutsam,
daß sie sich nach all den Jahren getroffen hatten. Bedeutsam einfach wegen
dieses Austauschs von

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