Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
Glorreichen Rosenkranzes. Beim
Blick auf die Vignetten fällt ihr der Name Thomas ins Auge. Sie betrachtet das
Bild in dem Kreis: Es zeigt deutlich den reumütigen und entsetzlich krank
aussehenden Thomas, der mit Dornen gekrönt ist. Unter dem Bild steht
geschrieben: Mit Dornen gekrönt: Zur moralischen Erbauung.
Sie schlägt die Seite auf, die mit dem roten Band markiert ist, und
liest das dort stehende Gebet: »O Gott, der durch die Erniedrigung seines Sohns
die gefallene Welt gerettet hat; gewähre deinem gläubigen Volk immerwährende
Freude; daß jene, die du vor den Gefahren des ewigen Todes errettet hast, in
die ewige Freude eingehen mögen. Durch ihn etc. Amen.«
Mit einem Knall, der durch die ganze Wohnung hallt, klappt Linda das
Gebetbuch zu, als wolle sie kein Wort nach draußen dringen lassen.
Die Tante arbeitet als Näherin in einem Kaufhaus in Quincy. Die
Cousins und Cousinen schlagen sich mehr oder weniger selbst durch. Feste
Essenszeiten sind in dem dreistöckigen Haus unbekannt, daher gibt es auch
keinen Eßtisch, nur einen Tisch mit Wachstuch in der Küche. Jede Woche wird
eines der Kinder damit beauftragt, das Essen zuzubereiten, aber da Jack und
Sean zu klein sind und Tommy unzuverlässig ist, fällt die Aufgabe gewöhnlich
Linda, Patty und Erin zu. Aufgrund allgemeiner Übereinstimmung essen alle, wenn
sie hungrig sind, vor dem Fernseher im Wirtschaftsraum.
Es herrscht ständig Lärm in der Wohnung. Jack und Sean krabbeln am
Boden herum. Michael läßt seine Stereoanlage zu laut laufen. Patty und Erin
fauchen sich an wie Katzen.
Das Zimmer, das sich Linda mit Patty und Erin teilt, ist mit einer
karierten Tapete tapeziert und hat zwei Doppelbetten. Dazwischen wurde eine
Matratze gelegt, um für Linda ein Bett zu schaffen. Am Morgen ist es fast
unmöglich, die Laken und Decken ordentlich einzuschlagen, was Linda unter normalen
Umständen gut kann (die Nonnen bestanden darauf). Wenn Patty und Erin
aufstehen, treten sie manchmal unabsichtlich auf Linda. Um lesen zu können, muß
sich Linda gegen den Nachttisch lehnen.
Ein Bestandteil des Raums, der Linda gefällt, ist ein kleines
Fenster unter einem Giebel. Wenn sie auf Pattys Bett sitzt, kann sie den Hafen
sehen und dahinter den Strand und das offene Wasser des Ozeans. Sie kann auch
die Berg- und Talbahn sehen.
In diesem Raum liest Linda Keats und Wordsworth, studiert höhere Algebra,
lernt französische Vokabeln auswendig, listet die Gründe für die Große
Wirtschaftskrise auf und sieht sich heimlich Eileens High-School-Jahrbuch an,
in dem das Bild eines Jungen ist, der im Jahr zuvor die vorletzte Klasse
besuchte: »Thomas Janes, Nantasket 2,3 ;
Schulmannschaft Hockey 2,3; Schulmannschaft Tennis 2,3.«
Am Sonntagnachmittag geht Linda zur Beichte. Sie trägt einen
marineblauen Rock, einen roten Pullover, einen Armeemantel und eine Mantilla
auf dem Kopf. Sie sagt dem Priester, daß sie unreine Gedanken gehabt habe. Die
unreinen Gedanken, erklärt sie, hätten größtenteils mit ihrer Tante zu tun, die
abweisend sei und zu heftigen Kopfschmerzen neige. Nie erwähnt sie den Freund
der Tante, den Mann, den sie alle »Onkel« nannten.
Am Abend verkündet Linda, daß sie eine neue Freundin besuchen
wolle, die sie in der Schule kennengelernt habe (eine Lüge, die sie am
folgenden Sonntag beichten muß). Es gibt ein bißchen Aufstand unter den
Cousinen, weil Linda die Regeln nicht erklärt wurden und sie keinen Ausgang
hat, aber daran hält sich ohnehin niemand. Sie verläßt das Haus in demselben
blauen Rock, dem Pullover und Armeemantel, die sie zur Beichte getragen hat.
Außerdem hat sie ein seidenes Kopftuch umgebunden, das Patty ihr geliehen hat,
weil der Wind vom Wasser her so stark bläst, daß die Flaggen starr seitwärts
stehen.
Linda geht den Hügel hinunter, sie kommt an anderen dreistöckigen
Häusern mit Aluminiumverkleidungen, flachen Dächern und Reihen von Balkonen
vorbei, auf denen Holzofengrills und Fahrräder stehen. Sie geht den Boulevard
entlang und überquert die Nantasket Avenue. Sie behält die Hände in den Taschen
und wünscht sich, daß es kalt genug wäre, um Handschuhe zu tragen. Abends reibt
Patty Oil of Olaz in die Risse und Schrunden.
Die Lichter des Vergnügungsparks glitzern. Zehntausend Glühbirnen
beleuchten den Park am Strand während des letzten Wochenendes der Saison. Fast
alle Lichter bewegen sich – an der Großen Berg- und Talbahn, am Riesenrad, am
Karussell, am Caterpillar, am Lindy Loop und den
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