Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
tun. Sie verspricht zu
schreiben und lächelt tapfer trotz der Tränen, wie sie es von den erbaulichen
Filmen her kennt, die sie gelegentlich sehen durften.
Als Linda nach Hause kommt, stellt sie fest, daß der Freund der
Tante, der Mann, den sie immer »Onkel« nannten, mit einer anderen Frau
durchgebrannt ist und seine Frau mit ihren sechs Kindern und einer Nichte in
einem Heim für ungeratene Mädchen verlassen hatte. Nachdem sie im Stich
gelassen worden war, mußten die Tante und die Cousins und Cousinen in immer
kleinere Häuser ziehen, waren gleichsam die Treppe immer weiter nach unten
gefallen, so daß zu dem Zeitpunkt, als Linda zu der Familie zurückkehrt, die
Tante mit ihren Kindern eine Wohnung im oberen Stockwerk einer Sozialsiedlung
bewohnt.
Die Wohnung, in die Linda einzieht, ist ein Labyrinth aus
winzigen Räumen, die nach Johnsons’s Baby-Öl und Zwiebeln riechen. Sie teilt
sich ein Zimmer mit Patty und Erin, zwei ihrer Cousinen, die sie seit drei
Jahren nicht mehr gesehen hat und die sie kaum kennen. Linda muß Eileens
Kleider tragen, bestimmt die Tante; es gibt kein Geld für neue. Die Kleider,
die einst Eileen gepaßt haben, die nach New York gegangen ist, um ihr Glück zu
machen, sind aber ein bißchen zu klein für Linda, da sie größer ist als Eileen.
Die Kleider und Röcke sind so kurz, wie die öffentliche Schule es gerade noch
erlaubt, und die engen Pullover haben tiefe V-Ausschnitte. Jahrelang hat Linda
eine Schuluniform getragen, so daß ihr die Kleider fremd und seltsam aufregend
vorkommen, als wären es Verkleidungen, die sie ausprobiert. Theoretisch kann
sie sich in eine andere Person verwandeln.
Noch immer hallen leise Echos der Worte »Hure« und »Schlampe« durch
die Räume. Linda legt grellen Lippenstift auf, den Patty ihr leiht, und lernt,
ihr Haar zu toupieren. Auf Lindas Gegenwart und ihre Jugend reagiert die Tante
mit finsterer Miene.
Die Cousins und Cousinen lehnen Linda entweder ab oder verhalten
sich fürsorglich. Man weiß, daß sie gefehlt hat, obwohl keiner weiß und keiner
je erfahren wird, aufgrund welchen Verbrechens sie verbannt wurde. Es ist ein
Geheimnis zwischen der Tante und Linda.
Die Tante hat inzwischen das unvorstellbare Alter von zweiundfünfzig
erreicht. Sie hat papierdünne Haut, die von vielen Fältchen durchzogen ist, und
Augenbrauen, die leicht grau gesprenkelt sind. Ihr Mund ist verkniffen, ihre
Oberlippe von Runzeln umsäumt. Um jünger auszusehen, hat sie ihr Haar blond
gefärbt, was eine seltsame Mischung aus messingfarbenem Gold mit grauen
Ansätzen ergeben hat. Doch trotz des Altersunterschieds entgeht Linda nicht,
daß sie in gewisser Hinsicht ihrer Tante ähnlich sieht. Tatsächlich ähnelt sie
ihrer Tante mehr als einige der Cousins und Cousinen – eine intime Verbindung,
über die keine der beiden besonders glücklich ist.
Die Tante geht jeden Tag zur Messe. Ihr Gebetbuch liegt wie eine
Bombe auf der Lehne des Sofas im Wirtschaftsraum – eine Bombe, die jeden Moment
mit Gebeten und gräßlichen Prophezeiungen über die Folgen der Sünde explodieren
kann.
In der ersten Oktoberwoche beginnt Lindas letztes Jahr an der
öffentlichen Schule. Sie zieht einen schwarzen Rock und eine weiße Bluse von
Eileen an, weigert sich aber, sich von Patty die Nägel lackieren zu lassen,
weil sie sich wegen ihrer Hände schämt.
Die Schule befindet sich am Ende einer langen Halbinsel. Auf den
ersten Blick wirkt sie wie ein Gefängnis. Das niedrige Gebäude aus Backstein
und Stahl hat ein Flachdach und ist von einem starken Maschendrahtzaun umgeben,
um die Schüler vom Wasser fernzuhalten. Es gibt keine Bäume, nur einen
asphaltierten Parkplatz. Es ist die Art von Gebäude, die an Wachtürme denken
läßt.
Die High-School scheint wenig mit ihrer Umgebung zu tun zu haben,
ganz so, als würde sie sie absichtlich ignorieren. Der Ozean glitzert an diesem
Oktobermorgen, und der Himmel ist von einem ungetrübt strahlenden Blau. In der
Ferne kann Linda Boston sehen. Die Schule ist so ungewöhnlich wie die ganze
Stadt: ganz so, als wäre eine Arbeitersiedlung in eine Gegend verpflanzt
worden, die zur teuersten südlich von Boston geworden wäre, wenn die Dinge
einen anderen Lauf genommen hätten.
Im Innern der High-School sind die Fenster undurchsichtig, vom
Meersalz und wegen des Maschendrahts, der zum Schutz vor Möwen dient, die beim
Versuch, nach drinnen zu kommen, gegen die Scheiben prallen würden. Sie sind
auf die Pausenbrote der Schüler gierig. Ganz
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