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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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oben auf der Schulordnung steht
daher: Niemals Möwen füttern!
    Die Cousins und Cousinen waren nicht diskret, und schon vor ihrer
Ankunft sind Linda Gerüchte vorausgeeilt. Der stellvertretende Direktor, ein
Mann namens Constantine, betrachtet sie voller Argwohn und bemerkt bereits
Verstöße: »Zieh diesen Rock nicht mehr an«, sagt er.
    Er weist Linda in ihre Schranken. Nur für den Fall, daß sie auf
dumme Gedanken kommt.
    Linda geht die Gänge entlang und steht vor einer orangefarbenen
Tür mit schmalem Glasschlitz. Durch den Schlitz kann sie einen Lehrer und eine
Gruppe von Schülern sehen – die Jungen in bunten Sporthemden, die Mädchen mit
gelocktem Haar. Als sie die Tür öffnet, hört der Lehrer zu sprechen auf. Die
Gesichter der Schüler nimmt sie nur nebelhaft wahr. Ein langes Schweigen tritt
ein, das sich unerträglich in die Länge zu ziehen scheint, obwohl es höchstens
zehn oder zwölf Sekunden angehalten haben kann. Der Lehrer, der eine
schwarzgeränderte Brille trägt, fragt sie nach ihrem Namen.
    »Linda«, muß sie sagen, obwohl sie gern Gabrielle oder Jaqueline
hieße, irgendeinen anderen Namen hätte, bloß nicht Linda.
    Der Lehrer macht ein Zeichen mit der Hand, sie solle sich setzen.
Auf Eileens hohen Absätzen geht sie zu einem Tisch hinter einem Jungen.
    »Wir nehmen gerade Keats durch«, flüstert er ihr zu.
    Linda betrachtet das Profil des Jungen. Ihr fallen die Worte
arrogant und aristokratisch dazu ein. Er hat braunes Haar, das ein wenig
schmutzig und von gerade noch erlaubter Länge ist, und die Kinnlinie eines
Mannes, wenn er sich umdreht. An seinem Hals ist ein Furunkel, den sie zu
übersehen versucht. Er muß sehr groß sein, denkt sie, denn obwohl er auf seinem
Stuhl lümmelt, ist er größer als sie auf ihrem Stuhl.
    Halb umgewandt beugt er sich zu ihr nach hinten, als wolle er sie in
seine Sphäre einbeziehen, und von Zeit zu Zeit flüstert er ihr kurze Informationen
zu. »Keats starb mit fünfundzwanzig«; »Mr. K. ist ein netter Typ«; »du mußt dir
einen Dichter für deine Hausarbeit aussuchen.«
    Aber Linda weiß alles über Keats und die romantischen Dichter. Außer
dem Umgang mit Waschmaschinen hat sie bei den Nonnen eine solide Ausbildung
bekommen.
    Bevor er sich hinter seinem Tisch herauswindet, stellt sich der
Junge als Thomas vor. Er hat Bücher unter den Arm geklemmt, und ein Duft, der
an warmen Toast erinnert, geht von ihm aus. Er hat dunkelblaue Augen und wie
die meisten Jungen seines Alters leichte Akne. Ihre Schuhe drücken, als sie aus
dem Klassenzimmer geht. Sie hat keine Strümpfe an und ist sich unangenehm ihrer
nackten Beine bewußt.
    Nach der Schule geht Linda zum Allerton Hill und setzt sich auf
einen Felsen, von dem aus man aufs Meer hinaussehen kann. Es ist eine vertraute
Handlung und erinnert sie an das Heim für mißratene Mädchen, nach dem sie ein
unbestimmtes Heimweh hat. Sie sucht sich einen Platz zum Hinsetzen, der nicht
zu einem Grundstück gehört, sondern freie Natur ist. Von dort aus kann sie den
größten Teil der Stadt überblicken: den Hügel selbst, der in konzentrischen
Kreisen ansteigt, ein Haus prächtiger als das andere, obwohl die meisten im
Winter unbewohnt sind und die Grundstücke verwildert wirken. Das Dorf, das vom
Rest der Stadt etwas entfernt liegt, besteht aus einer Ansammlung malerischer
Häuser und historischer Landmarken: dem Strand, wo in den dreißiger und
vierziger Jahren gebaute Häuser von Hurrikans immer wieder überflutet wurden;
Bayside, einer Siedlung aus Bungalows und Sommerhäusern, fein säuberlich von
Straßen durchzogen, die von A bis Y reichen (was ist mit Z?), ihrer eigenen
Siedlung aus dreistöckigen Reihenhäusern mit wackligen Feuerleitern und
atemberaubendem Ausblick, und entlang Nantasket Beach dem Vergnügungspark mit
dem schäbigen Spielsalon. Den Mittelpunkt des Vergnügungsparks bildet die Berg-
und Talbahn.
    Als Linda nach Haus kommt, geht sie in den Wirtschaftsraum, um
mit ihrer Tante über ihre Kleider zu reden. Ihre Tante ist aber nicht da. Linda
sieht das Gebetbuch auf der Sofalehne und nimmt es in die Hand. Es ist ein
kleines, in Leder gebundenes Buch mit Goldschnitt und gelben, schwarzen, roten
und grünen Bändern, die als Lesezeichen dienen. Auf dem Einband stehen die
Worte TÄGLICHES MESSBUCH DER HL. ANNA ; in der
rechten unteren Ecke ist ein Name: Nora F. Sullivan. In dem Buch stecken viele Kärtchen mit schaurigen Darstellungen des
Freudenreichen, des Schmerzensreichen und des

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