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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Wahnsinn«, sagt Thomas.
    Er versucht umzukehren, aber die Straße ist so glatt, daß der Wagen
über die Fahrbahn schlittert und wie in Zeitlupe gegen einen Leitungsmast
fährt. Thomas läßt den Motor aufheulen und versucht, zurückzusetzen, aber die
Reifen drehen auf dem Eis einfach durch. Über ihnen schwanken die dick mit Eis
verkrusteten Drähte im Wind.
    »Wir müssen zu Fuß gehen«, sagt Thomas. »Wir lassen den Wagen hier
und holen ihn ab, wenn die Straßen gestreut sind.«
    »Wohin sollen wir denn zu Fuß gehen?« fragt Linda. Sie sind noch
Meilen von ihrer Wohnung entfernt.
    »Mein Haus ist gleich oben am Hügel«, antwortet er.
    Die ganze Woche über ist in den Zeitungen zu lesen, daß dies der
kälteste Januar seit vierundfünfzig Jahren ist. Die Häuser am Strand sind von
gefrorenem Reif bedeckt und sehen wie Eispaläste aus, wenn am nächsten Morgen
die Sonnenstrahlen auf sie fallen. Auch der Hafen friert zu, und die Boote, die
dort eingeschlossen sind, werden immer höher geschoben, bis das Eis den Rumpf
eindrückt. Tagelang fällt der Strom aus, und viermal findet kein
Schulunterricht statt: die Busse kommen nicht durch. Dann tritt Tauwetter ein,
und alle in der Stadt glauben, daß nun das Schlimmste vorbei sei. Aber dann
kommt der Sturm und überrascht alle, sogar die Meteorologen, die milde
Temperaturen vorausgesagt haben.
    Thomas und Linda müssen im Seitenschritt den Hügel hinaufklettern
und sich dabei an Ästen festhalten. Linda trägt ihre kniehohen Lederstiefel,
die sie von ihren Trinkgeldern gekauft hat. Sie haben glatte Sohlen und nützen
ihr jetzt nichts. Thomas, der mehr Halt hat, nimmt ihre Hand, damit sie nicht
abrutscht. Immer wieder bleiben sie an einem Baum stehen, um Luft zu holen und
sich zu küssen. Graupelkörner laufen ihnen den Nacken hinab. Auf Thomas’ Oberlippe
ist der Nasenschleim angefroren, und mit der tief über Gesicht und Ohren
gezogenen Mütze sieht er aus wie ein Penner. Sein Mund und seine Zunge sind
warm.
    Was Schule und Transportmöglichkeiten anbelangt, war es ein
schlechter Monat, aber ein guter zum Schlittschuhlaufen. In seinem Keller hat
Thomas ein Paar Kinder-Schlittschuhstiefel hervorgekramt und regelmäßig Jack
von zu Hause abgeholt. Er ist mit dem Jungen in die Sumpfwiesen gegangen und
hat ihm Schlittschuhlaufen beigebracht. Er packt Jacks Hand, wenn der Junge
hinfällt, und schiebt ihn zwischen seinen Beinen vor sich her, während er ihn
unter den Armen festhält. Der Junge wird immer kühner, je mehr er kann. Thomas
macht für Jack einen kleinen Eishockey-Schläger und arrangiert »Spiele«
zwischen Michael und Jack auf einer und ihm selbst und Rich, seinem
siebenjährigen Bruder, auf der anderen Seite. Linda zieht manchmal Eileens
Schlittschuhe an und fährt in der Nähe von Thomas und den Jungen herum, aber
meistens steht sie mit verschränkten Armen am Rand, läuft nur ein paar Schritte
auf und ab, um nicht so zu frieren. Sie schaut auf Thomas mit Jack und Rich wie
eine Ehefrau, die ihrem Mann und ihren geliebten Söhnen zusieht. Stolz und
glücklich und mit einem Gefühl der Erfüllung, die es anderswo nicht gibt.
    Für den Weg zu Thomas’ Haus brauchen sie fast eine
Dreiviertelstunde, bei normalem Wetter dauert es nicht viel mehr als fünf
Minuten. Thomas’ Vater öffnet ihnen die Tür, sein langes Gesicht ist von Sorge
zerfurcht. Thomas’ Lippen sind erstarrt, er kann nicht einmal die Vorstellung
übernehmen. Thomas’ Mutter, eine große, grobknochige Frau mit blauen Augen,
deren Blicke Linda durchbohren, bringt ihnen Handtücher und hilft ihnen aus den
Mänteln. Als Thomas sprechen kann, stellt er Linda vor, deren Hände steif und
rot sind. Sie hofft, daß die Röte als Reaktion auf die Kälte verstanden wird.
    »Der Sturm ist so schnell aufgezogen«, sagt der Vater.
    »Wir haben uns Sorgen gemacht, weil du mit dem Auto unterwegs
warst«, sagt Thomas’ Mutter.
    Linda zieht ihre Stiefel aus und steht in Strümpfen in Thomas’
Wohnzimmer, sie hat die Arme verschränkt und die Hände unter die Achseln
gesteckt. Nie hat sie einen solchen Raum gesehen, und nicht einmal ihre
Phantasie hätte ausgereicht, um ihn sich vorzustellen. Er ist langgestreckt und
elegant, mit einer Front aus bleiverglasten Fenstern, die aufs Meer
hinausgehen. Zwei Feuer brennen in verschiedenen Kaminen, und mindestens ein
halbes Dutzend Sessel und zwei Sofas mit zueinander passenden gestreiften
Chintzbezügen stehen in Gruppen beisammen. Linda fragt sich, wie man es

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