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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Entwurf«, sagt er.
    Sie dreht die Seite herum und liest, was dort steht. Es ist ein
Gedicht über einen Sprung von einer Mole, über ein Mädchen im Wasser, das nur
einen Slip trägt. Über tanzende Lichter im Hintergrund und spöttische
Bemerkungen von Jungen.
    Sie liest das Gedicht durch, und dann liest sie es noch einmal.
    »Wasser wie Seide«, sagt sie. »Es hat sich
wie Seide angefühlt.«
    Unten ist der Teufel los, als sie herunterkommen: Die Mutter hat
eine eisige Miene aufgesetzt, der Vater hat von seiner Frau eine Standpauke
bekommen und zieht sich in einen Raum zurück, aus dem ein Fernseher zu hören
ist; Thomas’ Mutter, eine Frau, die weiß, was sie will, ruft ein Taxi mit
Schneeketten. Auf diese Weise verabschiedet, zieht Linda ihre Stiefel wieder
an, steht mit Thomas im Vestibül und wartet auf das Taxi.
    »In dem Matchsack«, sagt er, »sind Drogen.«
    Am nächsten Tag im Wagen vor dem Strandhaus streift Thomas Linda
die Jacke und die Bluse von der Schulter und küßt sie aufs Schlüsselbein.
    »Diesen Teil liebe ich am meisten«, sagt er.
    »Wirklich? Warum?« Angesichts dessen, was er vor kurzem an ihr
kennengelernt hat, scheint dies ein wenig abwegig zu sein.
    »Das bist du«, sagt er. »Das bist ganz du.«
    »Ist das nicht ein Song-Titel?« fragt sie.
    Sie haben Sonnenbrillen aufgesetzt. Die Welt draußen ist ein
einziges Glitzern. Auf dem Weg zum Strandhaus sind sie an der Großen
Achterbahn, an der Kirche von St. Anna und an dem Imbiß vorbeigekommen, und
alles war fest vom Eis umschlossen. Die Sonne warf einen Glanz auf die Wände,
der fürs bloße Auge zu grell war, und die Äste an den Bäumen waren von
überirdischer Schönheit.
    »Eine andere Art Himmel, als wir uns vorgestellt haben«, sagt sie.
    »Was?«
    »Es ist ein Wunderland«, sagt sie beeindruckt.
    Thomas hat seinen Wagen abgeholt. Wie die meisten Stadtbewohner, die
sich nicht unterkriegen lassen, hat er endlich Schneeketten auf die Reifen
montiert. Februar und März lagen noch vor ihnen, und wer wußte schon, welche
Unwetter der März noch bringen würde?
    »Sie haben mich zwanzig Dollar gekostet«, sagte er. »Aber das sind
sie wert. Sonst hätte ich dich nicht abholen können.«
    Er küßt sie. Wagemutig parken sie wieder vor dem Strandhaus, an
ihrer gewohnten Stelle. Aber es sei erst drei Uhr nachmittags, meint Thomas,
und der Polizist beginne wahrscheinlich nicht so früh mit seiner Runde.
    »Warum tust du das?« fragt Linda.
    Er weiß genau, was sie meint. »Donny T. hat mich darum gebeten«,
antwortet er.
    »Das ist durchaus kein Grund«, sagt sie und beugt sich vor, um das
Radio anzustellen. Heute war keine Schule, aber Thomas hatte den ganzen Morgen
gebraucht, um den Wagen abschleppen zu lassen, und fast den ganzen Nachmittag,
um die Ketten zu besorgen. Sie atmet tief ein. Sie kann nicht genug kriegen von
seinem Geruch, diesem Duft nach Toast. Für sie ist er der Inbegriff von
menschlicher Wärme.
    »Gestern abend bei dir zu Hause«, sagt sie. »Das war ein Desaster.«
    »Es war o. k.«, antwortet er.
    »Nein, das war es nicht«, erwidert Linda. »Sie hat mich gehaßt.«
    »Sie ist überfürsorglich.«
    Sie legt das Gesicht in die Hände. »Ich komm nicht drüber weg, daß
ich diesen Pullover ohne BH anhatte«, sagt sie.
    »Mir hat’s gefallen«, sagt Thomas. Er berührt ihre Brust und hält
inne wie ein Tier, das auf das Signal wartet, näher kommen zu dürfen.
    »Ist schon gut«, sagt sie.
    »Was immer es auch ist, du solltest es jemandem sagen.«
    »Ich würde es dir sagen, wenn ich könnte«, antwortet sie. Sie denkt
einen Moment nach. »Ich würde es Gott sagen, wenn ich könnte.«
    »Sieht und weiß er denn angeblich nicht ohnehin alles?«
    »Das ist Teil der Abmachung. Man muß in der Lage sein, ihm zu sagen,
was man getan hat.«
    »Das ist unlogisch.«
    »Natürlich«, sagt sie.
    »Ich möchte dir ja nicht zu nahe treten«, sagt Thomas kurz
darauf, »aber glaubst du wirklich, daß es Gott interessiert?«
    Die Frage schockiert Linda nicht, sie überrascht sie nicht einmal.
Es ist eine Frage, die in anderer Form eine ganze Weile an ihr genagt hatte:
Ist es nicht widersinnig, sich dafür zu interessieren, ob Billy und Donna vor
der Hochzeit miteinander geschlafen haben, nachdem der Holocaust passiert ist?
Logik verlangt gesunden Menschenverstand: Angesichts all des Horrors kann sich
Gott doch sicherlich nicht um vorehelichen Sex kümmern. Doch der Gedanke, daß
es ihn nicht kümmern könnte, erfüllt sie mit

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