Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
»Für
Magdalena.«
Sie schließt die Augen.
»Dreh dich um«, sagt er. »Ich leg’s dir an.«
Auf ihrem Nacken spürt sie seine Finger, die für das zarte Schloß zu
groß sind. »Ich mach’s«, sagt sie, als Jack, der seine Neugier nicht zügeln
kann, die Tür öffnet, um erneut einen Blick auf den geheimnisvollen Fremden zu
werfen. Linda hat keine Wahl, sie muß Thomas hereinbitten.
Sie sieht alles mit Thomas’ Augen: die Tapete mit den
Wasserflecken in der Ecke. Den weihnachtlichen Eßtisch neben dem Abwaschbecken
mit schmutzigem Geschirr. Die mit Kuchenbröseln übersäte Küchentheke, deren
gelbe Resopalplatte mit Soße bekleckert ist und auf der sich die Bratpfannen
türmen. Die Lampe über der Mitte des Tischs, die so oft angestoßen wurde, daß
der Schirm gesprungen ist.
Sie gehen in den Wirtschaftsraum mit dem karierten Sofa. Der Geruch
von kaltem Zigarettenrauch hängt in der Luft. Der Fernseher ist an, es läuft
eine Weihnachtssendung.
Linda stellt Thomas den Cousins und Cousinen und ihrer Tante vor.
Das Kreuz hängt wie ein Leitstern um ihren Hals. Die Tante ist reserviert und
mißtrauisch, sie registriert den guten Mantel, das Brooks-Brothers-Hemd, die
Lederhandschuhe und die teuren Schuhe. Jack ist außer sich vor Aufregung: da
ist ein älterer Junge, der mit ihm redet, ihm zublinzelt. Thomas nickt Michael
zu, setzt sich dann, immer noch im Mantel, auf das karierte Sofa und
beantwortet die Fragen der unerschrockenen Eileen. Die Tante, die roten
Lippenstift trägt und das Haar zu festen Löckchen gedreht hat, behält alles im
Auge. Sie kennt kein Pardon.
Linda, vor Scham fast benommen, beobachtet alles wie aus der Ferne.
Sie sieht, wie Thomas den Mantel ablegt, sich hinunterbeugt, um mit Jack und
seinen winzigen Metallautos zu spielen. Sie merkt, wie die Tante und Thomas
einen unheimlichen wissenden Blick austauschen. Sie beobachtet, wie Patty und
Erin, die in der Küche abwaschen müssen, von Zeit zu Zeit hereinspähen und von
dem hübschen Jungen offensichtlich ganz fasziniert sind.
Eine Stunde später hat Thomas Jack auf den Knien, und sie lauschen
Bing Crosby.
Thomas bleibt, bis die Tante den Cousins und Cousinen befiehlt, sich
zum Weggehen anzuziehen. Sie besuchen die Mitternachtsmesse, sagt sie, wozu
Thomas demonstrativ nicht eingeladen wird.
Bevor alle gehen, küssen sich Thomas und Linda hinter der Küchentür.
»Frohe Weihnachten«, flüstert Thomas, der schließlich doch ein sentimentaler
Bursche ist. Trotz all seiner Lowells und O’Neills.
»Danke für das Kreuz«, sagt sie. »Ich werde es immer tragen.«
Er küßt sie wieder, und es kommt ihr seltsamerweise wie ein
Sakrament vor, wie ein Vorspiel zur Mitternachtsmesse. Wie die Verbindung von
Religion und Sex, die für sie immer eine Einheit waren.
»Ich mag deine Cousins«, sagt er. »Vor allem Jack.«
Sie nickt. »Er ist ein lieber Junge.«
»Deine Tante mag mich nicht«, sagt er.
»Es hat nichts mit dir zu tun«, sagt sie.
»Kannst du morgen weg?« fragt er.
Sie denkt nach. »Am Nachmittag vielleicht.«
»Ich hol dich um eins ab«, sagt er. »Wir fahren nach Boston.«
»Boston?«
»Es gefällt mir in der Stadt, wenn alles geschlossen ist«, sagt er.
Nachdem Thomas gegangen ist, zieht die Tante im Flur ihren Mantel an
und raunt Linda leise zu, so daß nur sie es hören kann: »Nimm dich in acht. Er
gehört zu der Sorte, die dir das Herz brechen wird.«
Sie gehen durch leere Straßen, der Rest der Menschheit sitzt
wegen der eisigen Kälte, die vom Hafen herauf durch die engen Gassen der
nördlichen Stadt zieht, in ihren Häusern fest. Selbst mitten am Tag brennen die
elektrischen Kerzen der Christbäume in den Fenstern. Linda stellt sich Berge
von zerrissenem Geschenkpapier und am Boden verstreutes Spielzeug vor. Genauso
hat es auch bei ihr zu Hause ausgesehen. Eileen hat ihr ein Batikhemd
geschenkt, Michael eine Beatles-Platte, Jack ein Federmäppchen, das er in der
Schule gebastelt hat. Die Tante schenkte ihr vernünftige Baumwollunterwäsche,
die sie im Ausverkauf ergattert hat, und ein Gebetbuch, auf dem in der rechten
unteren Ecke in Goldlettern ihr Name eingeprägt ist. Linda
M. Fallon. Das M steht für Marie, ein
Firmname, den sie nie benutzt.
Linda fröstelt, der Armeemantel ist bei der Kälte viel zu dünn. Sie
hat eine Mütze auf, aber dennoch weht ihr Haar im Wind. Bewußt hat sie keinen
Schal umgelegt, damit ihr Kreuz zu sehen ist, aber jetzt muß sie mit der Hand
den Mantel zusammenhalten. Mit der
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