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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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anderen hält sie Thomas’ Hand fest.
    Die leeren Straßen wirken fremd und herrlich. Schnee fällt und
bleibt an den Wimpern hängen. Die ganze Stadt ist in Stille gehüllt, die nur
hin und wieder von dem eigentümlichen, langsamen Rattern der Schneeketten
vorbeifahrender Taxis unterbrochen wird. Da alle Geschäfte und Cafés
geschlossen sind, fällt es nicht schwer, sich die Stadt als Bühnenkulisse
vorzustellen. Die Menschen existieren nur in der Phantasie. All das Getriebe
und den Geruch von Kaffee muß man sich selbst dazu denken.
    »Es ist schön«, sagt Linda. »Wunderschön.« Sie meint das Gefühl der
Endlosigkeit der Zeit, die Hoffnung auf Zukunft, die Klarheit der Luft.
    Sie gehen den hinteren Teil des Beacon Hill hinauf und dann auf der
Straße wieder hinunter. Sie schlendern die Allee an der Commonwealth Avenue
entlang und stellen sich vor, wie es wäre, eine Wohnung in einem der braunen
Sandsteinhäuser zu haben. Sie haben schon ganz konkrete Vorstellungen und malen
sich gegenseitig die Kaminumrandungen, die Bettüberwürfe und die Bücher im
Bücherregal aus. Sie sind sich einig, daß sie immer Freunde bleiben,
gleichgültig, was ihnen auch geschehen wird. Sie gehen die Boylston Street
entlang, die Tremont Steet hinauf, über die Common Street und machen bei
Bickford’s halt, dem einzigen geöffneten Lokal gegenüber der U-Bahnstation an
der Park Street.
    Einsame und Alkoholiker mit Mützen auf den Köpfen und Handschuhen,
an denen die Fingerspitzen fehlen, sitzen einzeln an Tischen. Sie sind
hereingekommen, um der Kälte zu entfliehen, und einer von ihnen trinkt Milch.
Das Restaurant riecht nach ungewaschenen Körpern, altem Schinken und nach
Traurigkeit. Der Geruch des Schinkens, der wahrscheinlich am frühen Morgen
gekocht wurde, liegt wie ein Schwaden in der Luft, den sie einatmen müssen.
Eine Form von Bedrückung lastet im Raum, und man kann sie nicht wegdenken. Das
Lokal erinnert Linda seltsamerweise an ihre Kirchenbesuche, wo die Männer
ebenfalls einzeln verstreut in den Bänken sitzen.
    Linda und Thomas nehmen einen Tisch beim Eingang, weiter will Thomas
nicht ins Lokal hineingehen, denn aufgrund einer angeborenen Klaustrophobie
fühlt er sich in der Nähe des Ausgangs wohler. Sie bestellen Schokolade und
sitzen eine Weile schweigend in der Stille, die nur vom Klappern des Bestecks
und dem Aufspringen der Kassenschublade unterbrochen wird. Sie merkt, wie
Thomas die Penner ansieht, und spürt ganz deutlich, daß Thomas besser weiß als
sie, was mit diesen Männern passiert ist, daß er einen besseren Draht zu ihnen
hat als sie. Um seinen Mund liegt ein Zug, der auszudrücken scheint, daß irgend
etwas Verdorbenes in ihm steckt, das nicht unbedingt mit Sex und Alkohol
verbunden ist, sondern mit Chaos und Zerstörung.
    ›Geliebter‹, möchte sie sagen, ohne zu wissen, warum ihr dieses Wort
plötzlich auf der Zunge liegt.
    Auf dem Rücksitz des Skylark liegt ein Matchsack, ein brauner
Beutel mit Reißverschluß und Griff. Es könnte eine Sporttasche sein, obwohl sie
aus so schwerem, dickem Segeltuch ist, daß Linda an eine Armeeausrüstung denken
muß.
    »Was ist in der Tasche?« fragt sie.
    Thomas ist mit dem Team-Bus gekommen, Linda mit dem Zuschauer-Bus,
und ihr Bus schlitterte auf den Parkplatz wie ein Skifahrer. Thomas’ Haar ist
noch naß von der Dusche und gefriert, bevor die Heizung im Skylark warm wird.
Am Nachmittag war der Sturm rasch vom Ozean hereingezogen, und die Straßen sind
tückisch glatt. Thomas sitzt übers Lenkrad gebeugt und sieht beim Fahren durch
einen kleinen Schlitz in der Windschutzscheibe, der noch nicht ganz vereist
ist. Das Lederverdeck des Cabrios dämpft das Trommeln des Schneeregens.
    »Da ist bloß was für Donny T. drin«, antwortet Thomas abwesend, aufs
Fahren konzentriert.
    »Was für Donny T.?« fragt Linda.
    »Bloß irgendwelches Zeug, das ich für ihn aufbewahren soll.«
    Das Eishockey-Spiel fand in Norwell statt, und sein Team hat 2:0
verloren. »Bist du verletzt worden?« fragt Linda.
    »Was?«
    Hinter einem Lastwagen fährt Thomas im Schneckentempo die Main
Street in Richtung Spring Street entlang. Auf der Fitzgerald beschleunigt der
Lastwagen das Tempo und Thomas zieht mit, weil er annimmt, die Straßen seien
jetzt besser, obwohl seine Sicht noch immer sehr schlecht ist. Die Abzweigung
an der Nantasket Avenue nimmt er zu schnell, und der Wagen dreht sich um 180
Grad. Linda streckt die Hände zum Armaturenbrett vor, um sich abzustützen.
    »Das ist

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