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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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jeden
Abend schafft, sich zu entscheiden, wohin man sich setzen soll. Dann fällt ihr
der Wirtschaftsraum in dem dreistöckigen Siedlungshaus ein, der flackernde
Fernseher, das einzige Sofa mit den abgeschabten Armlehnen und Michael, Erin,
Patty und Jack sitzen auf der Erde und lehnen sich an die Couch, wenn sie
Bonanza ansehen. Sie hofft, daß keiner von ihnen draußen im Sturm ist.
    Thomas führt Linda zum Sofa, wo sie sich der Mutter gegenüber
niedersetzen. Linda kommt sich vor wie bei einer Prüfung. Der Vater tritt mit
heißer Schokolade herein und scheint die Situation zu genießen wie ein kleiner
Junge, der gerade erfahren hat, daß der Unterricht ausfällt. Thomas’ Mutter in
ihrem knitterfreien Cardigan und dem dazu passenden Rock mustert die Freundin
ihres Sohnes, registriert den Lippenstift, den Jeansrock und den Pullover,
unter dem Linda keinen Büstenhalter trägt.
    »Sie sind neu in der Stadt?« fragt die Mutter, ihre heiße Schokolade
schlürfend. Linda umklammert ihre Tasse mit beiden Händen, um sich auf diese
Weise zu wärmen.
    »So kann man sagen«, antwortet Linda und sieht nach unten. Unter
ihrem Pullover zeichnen sich ihre von der Kälte aufgerichteten Brustwarzen
deutlich ab; obendrein hat das Ding auch noch einen tiefen V-Ausschnitt, in dem
das Kreuz baumelt.
    »Und Sie leben in welchem Teil der Stadt?« fragt die Mutter, die
sich nicht lange mit Höflichkeiten aufhält.
    »Maple Street«, antwortet Linda, stellt die Tasse ab und verschränkt
die Arme über der Brust. Neben ihr bewegt Thomas die Finger, um die
Durchblutung anzuregen. Er hat die heiße Schokolade nicht angerührt. Der
Jeansrock ist zu kurz und liegt zu eng an ihren Schenkeln an. Linda widersteht
dem Drang, ihn nach unten zu ziehen. »Das ist in …?« fragt die Mutter.
    »Rockaway Annex«, sagt Linda.
    »Wirklich?« sagt die Mutter, ohne sich die geringste Mühe zu geben,
ihr Staunen zu verbergen.
    »Schlimmer Sturm«, sagt Thomas’ Vater neben ihnen.
    »Ich führe Linda ein bißchen herum«, sagt Thomas und steht auf.
Linda denkt, wie ungewöhnlich es ist, ein Haus zu haben, in dem man
herumgeführt werden kann.
    Sie steigen die Treppe zu Thomas’ Zimmer hinauf, treten hinter die
Tür und küssen sich. Thomas hebt ihren Pullover und legt seine kalten Hände auf
ihre Brüste. Er schiebt den feuchten Jeansrock zu ihren Hüften hinauf. Sie
steht auf Zehenspitzen an die Wand gelehnt. Sie hört den Vater oder die Mutter
unten an der Treppe und ist sicher, daß er oder sie heraufkommen werden. Die
Gefahr, die Erregung oder die Panik lassen unwillkürlich ein Bild vor ihr
entstehen: ein Mann, der den Rock eines Kleides hochhebt.
    »Ich kann nicht«, flüstert sie und schiebt Thomas weg.
    Zögernd läßt Thomas von ihr ab. Sie zieht ihren Rock und ihren
Pullover wieder zurecht. Als sie Schritte auf der Treppe hören, kickt Thomas
mit dem Fuß die Tür zu.
    »Was hast du?« fragt er.
    Sie sitzt auf dem Bett und versucht, sich von dem Bild zu befreien
und die Einzelheiten des Zimmers in sich aufzunehmen: den Schreibtisch, die
Stapel von Papieren, die Stifte, die auf der Platte verstreut sind. Ein Hemd
und eine Hose liegen zusammengeknüllt in der Ecke. Weiße Vorhänge umrahmen das
Fenster und wirken zu niedlich für das Zimmer eines Jungen. »O Gott«, seufzt
sie leise und bedeckt das Gesicht mit ihren Händen.
    »Linda, was hast du?« fragt Thomas beunruhigt und kauert sich vor
ihr nieder.
    Sie wiegt den Kopf hin und her.
    »Deswegen?« fragt er offensichtlich verwirrt. »Deswegen?« fragt er
und deutet auf die Wand.
    Schritte gehen an der Tür vorbei.
    Im Spiegel über der Kommode sieht sie Thomas und sich: Thomas
sitzt jetzt auf dem Bett, er ist sich mit den Fingern durch die Haare gefahren
und hat die Schultern hochgezogen. Sie steht mit verschränkten Armen neben dem
Bücherregal. Ihre Augen sind von der Kälte rot gerändert, ihr Haar ist von der
Mütze plattgedrückt.
    Auf dem Schreibtisch neben dem Regal liegen beschriebene Seiten. Sie
wirft einen prüfenden Blick darauf. »Ist das ein Gedicht, an dem du arbeitest?«
fragt sie.
    Thomas sieht abwesend auf den Schreibtisch, dann steht er auf und
bemerkt, daß er seine Arbeit offen liegen gelassen hat. Er geht zum
Schreibtisch und nimmt die Blätter.
    »Ist das etwas, was du mir vorlesen kannst?« fragt sie.
    »Nein«, antwortet er.
    »Bist du sicher?«
    Er ordnet die Papiere. »Ich bin mir sicher.«
    »Laß mich sehen.«
    Sie greift nach der ersten Seite. »Es ist nur ein

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