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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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mit
einer Taschenlampe durch die undurchsichtigen feuchten Scheiben. Hatte jeder
Teenager dieser Jahrgänge solche Erinnerungen?
    »Eigentlich sollte ich an einer Diskussion teilnehmen«, sagte
Thomas. »Im Moment schwänze ich gerade ein Interview.«
    Sie, die keine Interviews zu geben hatte, abgesehen von einem Anruf
am Morgen.
    »Wann ist deine Diskussion?«
    Thomas sah auf seine Uhr. »Um vier.«
    »Es gibt eine Fähre um 14 Uhr 30«, sagte sie. »Worum geht’s bei der
Diskussion?«
    »Das phänomenale Ego des zeitgenössischen Dichters.«
    Sie sah ihn an und lachte.
    Er drehte sich leicht herum, stellte einen Fuß auf die Picknickbank
und legte den Arm aufs Knie. Thomas hatte immer Haltungsprobleme gehabt und
litt an Rückenschmerzen, schon als Junge. Es hatte mit dem Verhältnis seiner
Größe zur Länge seiner Knochen zu tun. Sein latschiger Gang hatte ihm immer
etwas anziehend Schlaksiges verliehen.
    Ein Mädchen im Teenageralter kam scheu an den Tisch, um die
Bestellung aufzunehmen. Die Auswahl war begrenzt. Cheeseburger, Fischburger und
Hot dogs. Linda traute dem Fisch nicht. Sie bestellte einen Cheeseburger. »Ich
hab seit Jahren keinen mehr gegessen«, sagte sie.
    »Wirklich«, fragte Thomas, ehrlich überrascht.
    »Hast du je wieder Hummer gegessen?«
    »Oh, sicher. In Maine ist man dazu mehr oder weniger verpflichtet.«
    Sie wollte von ihm abrücken, einfach um die bestehende Spannung
aufzulösen. Sie nahm die äußerlichen Makel wahr: ihre eigenen, über die es sich
nicht nachzudenken lohnte; Kerben im Tisch; ein Tischbein, das ein wenig
wackelte; eine Kruste vertrockneten Ketchups unter den weißen Plastikbechern.
Boote, die um die windabgewandte Seite der Insel gekommen waren, warfen hohe
Wellen auf, Gischt prasselte und zischte. Sie bemerkte, daß sich irgendwelche
Raubvögel sogar vor ihren Augen zu paaren schienen und sich in taktvoller
Entfernung aufreihten, um auf Krümel zu warten. Schlaue Vögel mit gutem
Gedächtnis.
    »Wenn du über deine Tochter reden möchtest«, sagte Linda und war
sich des Risikos der Aufforderung wohl bewußt. »Ich würde gern mehr über sie
erfahren.«
    Er seufzte. »Tatsächlich wäre das eine Erleichterung. Das ist eines
der Probleme, wenn man nicht mit der Mutter des Kindes zusammen ist. Es gibt
niemanden, der sie zum Leben erweckt. Es gab Rich, aber sein Gedächtnis haben
wir überstrapaziert.«
    Linda rückte weg, unter dem Vorwand, ihre Beine
übereinanderzuschlagen.
    »Aber was gibt’s zu erzählen?« Plötzlich wirkte er niedergeschlagen,
noch bevor er angefangen hatte.
    Sie sah auf seinen langen Rücken, das Hemd verschwand im Halbmond
seines Gürtels. Einen Augenblick lang sehnte sie sich danach, mit den
Fingernägeln über den Stoff zu streichen, das Rückgrat hinauf und hinab. Sie
war sicher, daß er vor Wohlbehagen stöhnen würde, unfähig, sich dessen zu erwehren.
Möglicherweise würde er den Kopf vorbeugen, als Aufforderung, seine
Nackenwirbel zu kraulen. Das Wissen um die körperlichen Freuden des anderen
blieb immer erhalten.
    Thomas nahm den Fuß herunter und griff in seine Gesäßtasche. Er zog
eine Lederbrieftasche heraus, die an den Kanten abgeschabt war.
    »Das ist Billie.«
    Linda nahm das Bild und betrachtete es eingehend. Dunkle Locken
umrahmten das Gesicht. Die dunkelblaue Iris der Augen, groß wie Murmeln, war
von dichten, glänzenden Wimpern gesäumt. Ein rosafarbener, perfekt geformter
Mund, weder lächelnd noch schmollend (obwohl der Kopf argwöhnisch oder kokett –
das war schwer zu sagen – zur Seite geneigt war). Die Haut war strahlend, ein
rosiger Hauch lag auf den runden Wangen. Bei einem Gemälde hätte man es nicht
für naturgetreu gehalten, aber auf diesem Foto mußte man es. Wie war es
möglich, daß dieses Bild kein Loch durch die abgewetzte Lederbrieftasche
gebrannt hatte?
    Sie sah Thomas erneut prüfend an. Daß Thomas in dem Mädchen
vorhanden war, daran bestand kein Zweifel, auch wenn die Schönheit des Vaters
von ganz anderer Art war. Neugier, die fast schon an Eifersucht grenzte,
ergriff Besitz von ihr, als sie versuchte, sich die Mutter vorzustellen: Jean
war ihr Name. Thomas’ erste Frau Regina, eine Frau, die sie gekannt hatte, war
groß und üppig gewesen, voller Sinnlichkeit, aber irgendwie keine Bedrohung.
Nie eine Bedrohung.
    Linda schüttelte den Kopf. Wie konnte sie auf eine Frau eifersüchtig
sein, die alles verloren hatte.
    »Es wurde im Hinterhof unseres Appartements in Cambridge
aufgenommen.« Thomas

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