Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
auf dem Boot zurück. Wir unterhielten uns bloß. Sie hatte
durch eine üble Scheidung ihre Tochter verloren und erzählte mir davon.« Er
kratzte sich wieder am Kopf. »Was für eine Ironie. Wenn man sich vorstellt, daß
ich sie tröstete, und ein paar Stunden später sollte ich derjenige sein, der
eine Tochter verlor.« Einen Moment lang legte er den Kopf in die Hände, dann
sah er auf. »Zufällig entdeckte ich Leute drüben auf der Insel und dachte, es
seien Rich und Jean. Ich wollte ihnen zuwinken. Ich nahm das Fernglas und sah,
wie Rich und Jean sich umarmten. Jean war von der Taille aufwärts nackt.«
Linda hielt den Atem an. Das Bild war schockierend, sogar in einer
Welt voller schockierender Bilder.
»Ich sah eine Weile zu, dann ertrug ich es nicht mehr. Ich warf das
Fernglas über Bord. Adaline fragte immer wieder: ›Was ist, Thomas? Thomas, was
ist?‹, aber ich konnte nicht sprechen. Und ich weiß nicht, warum es mich so
quält, selbst jetzt noch. Nachdem alles andere …«
Er lehnte sich im Sessel zurück.
»Es war dein Bruder«, sagte Linda. »Sie war deine Frau.«
Er nickte.
»Es war geradezu biblisch«, sagte sie.
Wieder nickte er. »Was ist Sex eigentlich?« fragte er.
»Vor dem Schwager das Hemd auszuziehen, ist das schon Sex?
Genaugenommen? Wo siehst du da die Grenze?«
»Es gibt keine.«
»Eben.« Er holte tief Luft. »Ich war vollkommen wahnsinnig danach.
Ich konnte nicht mehr klar denken. Ich war so verdammt abwesend. Und dann, als
sie zurückkamen …« Er hielt inne. »Ein Sturm hatte sich zusammengebraut. Ein
schlimmer Sturm. Ich bin kein großer Segler, aber selbst ich wußte, daß er
schlimm war. Es war gar keine Zeit, Rich oder Jean zur Rede zu stellen.« Thomas
schüttelte beständig den Kopf, während er sprach. »Und wegen des Sturms und der
gespannten Stimmung paßte keiner von uns richtig auf.«
Er erhob sich plötzlich, als müßte er für den Rest der Geschichte
seinen ganzen Mut zusammennehmen. Er ging zum Fenster. »Wir dachten, Billie sei
sicher bei Adaline. Adaline war seekrank und lag mit Billie, der es selbst übel
zu werden begann, in der vorderen Kabine. Rich, Jean und ich versuchten, das
Boot zu stabilisieren und das Ufer zu erreichen.« Thomas rieb sich die Augen,
wie nur ein Mann es tat: energisch, fast wütend. »Adaline ließ Billie auf dem
Bett liegen und stieg durch die vordere Luke nach oben, um Luft zu schöpfen.
Wahrscheinlich auch, um sich zu übergeben. Ich weiß, sie dachte, Billie würde
nicht vom Bett aufstehen.«
Thomas begann, auf und ab zu gehen. Er ging durch die Glastüren in
den Wohnraum hinüber. Er nahm eine kleine Vase und stellte sie wieder hin. Er
kam ins Schlafzimmer zurück. »Jean und ich hatten versucht, Billie die
Schwimmweste anzulegen. Ich glaube, wir dachten, wir hätten es getan, aber
vielleicht wurden wir unterbrochen, ich weiß es nicht mehr. Aber wir hätten es
wissen sollen. Billie wollte sie nicht tragen, und wir wußten besser als jeder
andere, wie stur sie sein konnte. Wir hätten sie zwingen müssen, sie
anzuziehen, und sie ständig im Auge behalten müssen. Wenn nötig, sie am Boot
festbinden müssen.«
Linda schloß die Augen. Es genügte ein Moment der Unaufmerksamkeit.
Man fuhr rückwärts aus der Einfahrt und bemerkte nicht, daß das Kind hinters
Auto gelaufen war. Man hatte Streit mit dem Ehemann und sah nicht, daß das Baby
auf den Fenstersims geklettert war. Eine Sekunde nur. Mehr brauchte es nicht.
»Adaline fiel über Bord. Ich sprang ihr nach. Rich versuchte, das
Boot im Gleichgewicht zu halten. Jean war außer sich. Und dann … Und dann war
es Rich, glaube ich, der es als erster bemerkte.« Thomas sah zur Decke. »O
Gott, das ist unsere Strafe, nicht wahr? Diese Erinnerungen. Es war wie ein
Eispickel in der Brust. Der Körper weiß es schon, obwohl der Geist es noch
nicht begreifen will. ›Wo ist Billie?‹ rief Rich.«
Thomas hielt inne. Er sah Linda an. »Und das war’s«, sagte er. »Das
war das Ende meines Lebens, wie ich es gekannt hatte.«
»Thomas.«
Sie hatten keine Worte. Sie, die nach Worten schürften, Worte
erfanden.
»Monatelang war ich vollkommen wahnsinnig. Verrückt. Ich wachte
mitten in der Nacht auf, schreiend. Rich kam ins Zimmer gelaufen – er blieb die
ganze Zeit über bei mir – und mußte mich aufs Bett niederdrücken.«
»Thomas.«
Er lehnte am Türpfosten, die Hände in den Taschen,
unerklärlicherweise hingen seine Hemdzipfel heraus. »Ich glaube, es war
wichtig, daß
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