Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
ich dir diese Geschichte erzählt habe.«
Ihre Blicke trafen sich, keiner sprach. Die Erde hätte sich einmal
um sich selbst drehen können, während sie schwiegen.
»Ich werde nicht mit dir schlafen, solange du auf Nachricht von
deinem Sohn wartest«, sagte Thomas schließlich. »Obwohl ich es gern täte.«
Linda zog die Knie hoch und legte den Kopf darauf, so daß Thomas ihr
Gesicht nicht sehen konnte. Er machte keine Anstalten, sie zu berühren, ganz
so, wie er gesagt hatte.
›Die Einzelheiten machen es unerträglich‹, dachte sie.
Sie preßte die Stirn fest an ihre Beine. Sie wußte, daß jede
Bewegung, egal welche, alles ausdrücken würde, was zu sagen war. Wenn sie sich
erhob und zum Fenster ging, wüßten sie beide, daß die Vergangenheit sich nicht
wiederbeleben, die Zukunft sich nicht retten ließe. Und dann würde Thomas seine
Krawatte und sein Jackett nehmen und sie vielleicht fragen, wann ihr Flugzeug
ginge, sie vielleicht sogar auf die Wange küssen, obwohl diese Geste
bedeutungslos wäre, vollkommen unwichtig, und es sich sogar erübrigen würde zu
fragen, was hätte sein können. Denn aufzustehen und zum Fenster zu gehen, würde
alle Fragen auslöschen, ein für allemal.
»Das hätte ich nicht sagen sollen«, sagte er.
»Du kannst alles sagen, was du willst.«
»Es ist Sex und Trauer«, erklärte er. »Dazwischen besteht eine
Verbindung, die ich nie begriffen habe.«
›Das Bedürfnis, am Leben zu bleiben‹, dachte sie, sprach es aber
nicht aus.
»Ich gehe jetzt«, sagte er, an der Tür stehend.
Sie hielt den Atem an. Sie würde ihn nicht aufhalten. Aber sie
wollte ihn auch nicht gehen sehen.
Sie hörte, wie er den Raum durchquerte. Sie erstarrte, dachte, er
würde sie berühren. Aber dann hörte sie das Knistern des seidenen Futters in
seiner Jacke, als er hineinschlüpfte. Sie wartete, bis sie das leise Klicken
der äußeren Tür hörte.
Sie sah auf und konnte kaum fassen, daß er wirklich gegangen war.
Sie wartete und dachte, er käme jeden Moment wieder zurück, würde ihr sagen,
daß er es sich anders überlegt habe oder ihr noch mehr erzählen müsse. Aber er kam
nicht zurück, und die Leere des Raums wurde ihr bewußt: eine Leere, die
vielleicht für immer so bliebe. Ein flüchtiges Gefühl der Erleichterung –
Erleichterung, daß sie sich nicht berührt hatten, nicht hatten entscheiden
müssen, wie sie miteinander umgehen sollten – machte einer stillen,
niederschmetternden Wut Platz. Der Wut vielleicht, verlassen, allein
zurückgelassen worden zu sein; der Wut sicherlich, daß vieles ungesagt
geblieben war. Eine Weile schwankte sie zwischen diesem aufkeimenden Zorn und dem
Gefühl unendlichen Mitleids.
Draußen hatte heftiger Regen eingesetzt. Mehr als heftiger Regen –
dichte Wasserschwaden schlugen gegen die Fenster. Sie fühlte sich genauso
instabil wie das Wetter. Sie zwang sich, auf dem Bett sitzen zu bleiben, zwang
sich, Thomas fortgehen zu lassen. Aber irgendein starker Drang – vernichtend
und verlockend zugleich – trieb sie zur Tür.
Sie fand ihn vor dem Aufzug stehend. Noch immer hielt er die
Krawatte in der Hand. Er sah erschöpft aus und leicht benommen, wie ein Mann,
der gerade Sex hatte und in sein Zimmer zurückkehrte.
»Warum hast du mich an jenem Morgen in Afrika verlassen?« fragte
sie.
Die Frage verblüffte ihn, das sah sie. Inmitten der Stille hörte sie
durch das Fenster am Ende des Gangs hupende Autos und eine Polizeisirene, die
Sirene hatte einen anderen Klang, eher europäisch als amerikanisch. Ein
Zimmerkellner schob einen ratternden Servierwagen durch den Gang und drückte
auf den Aufzugknopf, der, wie Linda erst jetzt bemerkte, noch nicht gedrückt
worden war. Thomas hatte den Aufzug nicht gerufen.
»Ich mußte es tun«, sagte er schließlich.
Sie holte tief Luft. »Warum? Warum mußtest du?« Ihre Stimme hob
sich, was hier im Gang nicht angemessen war.
»Regina«, sagte Thomas abwesend, als begriffe er nicht, daß die auf der
Hand liegende Antwort nicht die richtige war. »Regina war …«
»War was?«
»Linda, was soll das?«
»War was?« Ihre Stimme war jetzt so laut, daß sie nirgendwo
angemessen geklungen hätte.
»Regina war außer sich. Sie sagte, sie würde sich umbringen. Sie sagte
ständig, ich würde damit zwei Menschen umbringen. Ich wußte, daß ich sie in
Afrika nicht allein lassen konnte.«
»Mich hast du in Afrika allein gelassen.«
»Es war deine Entscheidung.«
»Meine Entscheidung?« Eine Stimme in ihrem Innern
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