Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
war zu angeschlagen, um mich zu wehren. Ich wollte mit dir sprechen, aber
er war …«
»Fürsorglich.«
»Ja.«
»Wo bist du?«
»Ich bin hier. In Brattleboro.« Es folgte eine Pause. »Mom, ist
alles in Ordnung mit dir?«
»Ich bin gerannt, um zum Telefon zu kommen. Ich hatte mich
ausgesperrt. Es ist eine lange Geschichte. Ich bin froh, daß du es so oft hast
läuten lassen.«
»Wir dürfen nur einen einzigen Anruf machen. Wie im Gefängnis. Ich
war nicht sicher, ob ich es noch einmal versuchen könnte.«
»Wie geht’s dir?«
»Wahrscheinlich sollte ich vor Angst die Hosen voll haben, aber
ehrlich gesagt, empfinde ich bloß Erleichterung.«
»O Marcus.«
Sie legte die Hand auf die Muschel. »Marcus ist in Brattleboro«,
sagte sie zu Thomas.
»Mom, mit wem sprichst du?«
»Mit einem Mann, Marcus. Einem Mann, den ich früher gekannt habe.
Vor deinem Vater.«
»Wirklich? Hört sich aufregend an.«
Sie schwieg.
»Sie lassen uns nur fünf Minuten telefonieren«, sagte Marcus. »Das
hat man mir gesagt. Und ich darf pro Woche nur zweimal anrufen.«
»Ist David bei dir?«
»Nein, sie haben ihn weggeschickt. Fast sofort. Ich glaube, die
Theorie ist die, daß Leute von zu Hause einen in Gefahr bringen. Sie möchten
sie so schnell wie möglich loswerden.«
Sie war natürlich jemand von zu Hause.
»Aber sie erlauben Besuche. Sie laden dich ein zu kommen.
Tatsächlich, glaube ich, daß sie darauf bestehen, daß du kommst. Sie halten
Ganztagsseminare ab, damit du lernen kannst, wie du mit mir umgehen sollst,
wenn ich nachher zu Hause bin.«
Sie lächelte. Marcus’ Ironie würde ihm helfen, das Ganze
durchzustehen. Oder war die Ironie ein Teil des Problems?
»Du mußt zusammen mit David kommen«, fügte Marcus zögernd hinzu.
»Ich mag David«, sagte Linda.
»Nein, das tust du nicht. Manchmal bin ich mir selbst nicht sicher,
ob ich es tue. Du weißt ja, daß man jemanden lieben kann, aber sich dennoch
manchmal fragt, warum man mit ihm zusammen ist?«
»Ja. Ja, das weiß ich.«
»Ich muß Schluß machen. Neben mir steht ein Mann, der mir sagt, daß
ich einhängen soll. Ich kann Maria nicht anrufen. Ich hatte nur einen Anruf …«
»Ich ruf sie an«, sagte Linda erleichtert, eine Aufgabe bekommen zu
haben. »Mach dir deswegen keine Sorgen.«
»Ich liebe dich, Mom.«
Mit welcher Unbefangenheit er das sagte.
»Du tust das Richtige, Marcus. Du machst das großartig.«
»Mom, nur eine Frage. Wußtest du es? Hast du gewußt, daß ich … Alkoholiker
bin?«
Nicht die Wahrheit zu sagen wäre jetzt verheerend.
»Ja«, sagte sie.
»Oh, ich wollte es bloß wissen.«
Jetzt war nicht der Zeitpunkt, darüber zu diskutieren, warum sie
sich geweigert hatte, es offen auszusprechen. »Ich liebe dich auch, Marcus«,
sagte sie statt dessen.
Noch eine ganze Weile, nachdem er aufgelegt hatte, hielt sie den
Hörer in der Hand. Sie versuchte, sich Marcus in Brattleboro vorzustellen, aber
sie sah nur ein Gefängnis vor sich und einen Wärter, der neben ihrem Sohn
stand. Es würde viel härter werden, als er oder sie sich vorstellen konnten.
»Es muß doch eine gewisse Erleichterung sein, zu wissen, daß er in
Sicherheit ist«, sagte Thomas.
Und sie nickte, weil er etwas Wahres ausgesprochen hatte, obwohl sie
wußte, daß er ohne weiteres mit der gleichen Anteilnahme hätte hinzufügen
können: ›Keiner von uns ist sicher.‹
Eine Zeitlang saßen sie zusammen auf dem Bett und dachten über
den Anruf nach, schweigend. Schließlich war sie es, die sich ihm zuwandte. Sie
sagte seinen Namen. Nicht um das Wunder lebendig zu halten, sondern einfach zum
Trost, wie zwei Menschen, die sich in den Bergen verirrt haben und die Körper
aneinanderpressen, um sich warm zu halten. Sie legte die Hand auf sein Hemd,
worauf er, mit einem hoffnungsvollen Aufleuchten im Gesicht, mit ihrem Namen
antwortete. Nicht mit Magdalene diesmal, sondern mit Linda, womit er alle
Künstlichkeit abstreifte, so daß nur noch Klarheit übrigblieb.
Und dann, wie vielleicht zu erwarten, vielleicht vorauszusehen war,
verwandelte sich ihre Geste in eine sexuelle. Wie ein Tier beschnupperte Thomas
ihr Haar, und sie wurde gleichermaßen vom Duft seiner Haut erregt. Es gab so
viel wiederzuerkennen, und doch war alles anders. Sie konnte die Höcker seines
Rückgrats nicht fühlen, wie sie es früher gekonnt hatte, und sie hielt den Atem
an, als seine Hand über ihren Bauch strich und ihre Brust berührte. Einen
Moment lang hatte die Geste etwas Verbotenes
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