Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
Thomas, dem mit einem vernichtenden Schlag der Hochmut ausgetrieben
worden war.
    Was blieb übrig als Vergebung? Ohne Vergebung, dessen war sie
plötzlich sicher, wäre ihr Leben eine einzige Qual bis hin zum Todeskampf in
einem Altersheim.
    Ein Signal ertönte, und dann war Stille. Und in der Stille formte
sich ein Wort. Dann ein Satz. Dann ein ganzer Absatz. Sie suchte nach einem
Stift in ihrer Tasche und begann, auf den Rand der Buchseite zu schreiben. Sie
schrieb eine Seite hinunter und die nächste hinauf, überschrieb ein Buch mit
einem anderen. Sie schrieb, bis ihre Hand schmerzte, bis eine Stewardeß ihr
einen kleinen Imbiß brachte. Sie legte den Stift weg und sah aus dem Fenster.
Es war erstaunlich, dachte sie. Das Flugzeug erhob sich aus dem Nebel in ein
Universum aus blauem Himmel und gebirgsartigen Wolken.

TEIL ZWEI
      
    Sechsundzwanzig
     
    DIE MANGO WAR FREMDARTIG UND fleischig
und erinnerte ihn an eine Frau, obwohl er nicht genau hätte sagen können,
warum. Die Farbe reichte von eidechsengelb bis grasgrün, eine gesprenkelte
Palette, die sich über Nacht änderte, wenn man die Frucht auf dem Fensterbrett
liegen ließ. Launenhaft wie Regina. Die Schale war dick und zäh und nur schwer
zu durchdringen, das Fleisch faserig und saftig, vor Feuchtigkeit glänzend. Der
Geschmack war göttlich. Es gab einen Trick beim Essen dieser Früchte, den er
noch nicht heraus hatte, eine bestimmte Art, die Schale abzulösen, den Stein zu
entfernen und die Frucht in appetitliche Stücke zu schneiden und auf einen
weißen Porzellanteller zu legen. Statt dessen brachte er es gerade fertig, am
Abwaschbecken zu stehen und das Fleisch auszusaugen. Es gefiel ihm, sich Regina
nackt in einer Badewanne vorzustellen, während Mangosaft über die Spitzen ihrer
Brustwarzen rann. Die Phantasie löste sich schnell wieder auf: Regina würde
niemals nackt in der Badewanne essen. Eine solche Schweinerei würde sie sich
nie erlauben.
    Mein Gott, wie es stank auf dem Markt. Es war das mit Fliegen übersäte
Fleisch in den Läden an der Mauer. Der Geruch von frisch Geschlachtetem, von
Kadavern, aus denen noch immer das Blut troff. Noch schlimmer roch das
zubereitete Fleisch, nicht zu vergleichen mit irgendwelchen Steaks oder
Koteletts, die er je gegessen hatte. Er war sicher, daß es Pferdefleisch war,
obwohl das allgemein abgestritten wurde. Eine Frau, barfuß, ein Kind in einem
Tuch auf den Rücken gebunden, stand neben ihm und hielt die Hand auf. Ohne
etwas zu sagen, wartete sie nur mit ausgestreckter Hand. Er griff in die Tasche
seiner Shorts und zog eine Handvoll Shilling heraus. Sie murmelte Ahsante sana und ging weiter. Wenn er auf den Markt ging,
achtete er darauf, die Taschen voller Kleingeld zu haben. Nicht nur wegen der
Schuldgefühle – obwohl er davon eine Menge hatte –, sondern wegen des Theaters beim Abweisen der Leute. Man mußte weitergehen und
so tun, als sei man beschäftigt, während der Bettler einem folgte und Tafadhali, bitte, Mister murmelte. Es war weniger lästig,
die Taschen voller Geld zu haben. Seine Nachgiebigkeit gegenüber den Bettlern
verärgerte Regina maßlos und zermürbte sie, als müsse sie ständig Anweisungen
wiederholen, die sie schon hundertmal gegeben hatte. Es hilft nichts, sagte
sie, damit wird ihr Problem nicht gelöst.
    ›Es löst mein Problem‹, dachte Thomas.
    Wir und sie. Es hörte nie auf. Er war jetzt seit fast einem Jahr in
diesem Land, und immer noch gab es »wir«, immer noch »sie«. Und soweit er
erkennen konnte, war das »wir« gönnerhaft, unbegründet und leicht lächerlich in
seiner kollektiven Ernsthaftigkeit. Er hatte keinen einzigen Amerikaner
getroffen, der sich groß verausgabt hätte – einschließlich Regina –, einmal
vorausgesetzt, daß es ein Problem gab, bei dem man sich hätte verausgaben
müssen, und daß Afrika an sich schon ein Problem war. Es war eine endlose und
ermüdende Debatte: Brauchte und wollte Kenia wirklich Amerikaner im Land? Ja,
was ersteres, nein, was letzteres betraf. Obwohl man nicht herumgehen und diese
Meinung offen vertreten durfte. Um überzeugt zu sein, brauchte man eine Art
Tunnelblick. Wie Regina ihn hatte, während Thomas jede Art von Vision fehlte,
egal ob eingeschränkt oder nicht. Strukturen interessierten ihn. Die physische
Welt. Die Möglichkeit der Ekstase im Hier und Jetzt. Unter der Oberfläche
liegende sexuelle Bedeutungen. Und Worte. Immer wieder Worte. Er traute einer
Zukunft nicht, die er nicht beschreiben konnte.

Weitere Kostenlose Bücher