Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
treffen«, bot
sie an.
»Du könntest – theoretisch – deine Tante in Hull besuchen.«
Sie lächelte. »Ja. Theoretisch könnte ich das.«
»Ich möchte deine Kinder kennenlernen«, sagte er.
»Sie sind beide im Moment in geschlossenen Anstalten.«
Thomas zog eine Augenbraue hoch.
»Ich meine nur, daß Maria im Johns Hopkins wohnt, wo sie ein
Praktikum absolviert.«
Thomas nickte. Am anderen Ende des Frühstücksraums sah sie den Mann,
dessen Schirm am Eingang des Hotels kaputtgegangen war. Er aß allein und las
Zeitung. Neben sich hörte sie die ältliche Tochter sagen: »Und wann fängst du
wieder mit deiner Therapie an, Mom?«
»Ich liebe Himbeeren«, sagte Thomas und stellte Überlegungen über
deren Seltenheit in dieser nördlichen Stadt an, noch dazu im April. »Gekochte
Himbeeren vor allem. Jean machte immer diese Muffins. Haferkuchen mit Himbeeren
und Pfirsichen. Gott, waren die köstlich.«
Ein Gefühl, nicht unähnlich einem Frösteln, durchfuhr Linda. Mit
diesem Frösteln ging die seltene Gewißheit einher, daß sie genau dort war, wo
sie sein sollte. Wie eine Idee, eine Erinnerung, die perfekte Möglichkeit aus
einer unendlichen Anzahl. Und ob sie diesen Gedanken aus der Not heraus erfand
oder ob er ihr einfach zugeflogen war, konnte sie nicht sagen. Sie wollte es
auch nicht wissen. Sie und Thomas würden zusammen im Taxi zum Flughafen fahren,
eine Fahrt, an die sie sich für den Rest ihres Lebens erinnern würde, und ihr
Leben würde lange währen, entschied sie.
Sie verabschiedeten sich am Flugsteig, machten aber nicht viel
Aufhebens von dem Abschied, denn ihn allzusehr zu betonen hätte Endgültigkeit
bedeuten können, die keiner wollte.
»Ich werde dich anrufen«, sagte Thomas, und sie zweifelte nicht, daß
er das tun würde. Er würde sie schon am Abend anrufen, weil ihn bereits eine
Nacht der Trennung schmerzen würde. »Wenn man sich vorstellt …«, sagte er, und
sie nickte, das Gesicht nahe an seinem. Sie hielt seine Hand umklammert, als
wäre sie am Ertrinken, und ihre Hilflosigkeit schien ihn zu rühren. Er küßte
sie so lange, daß sie sicher war, man würde sie inzwischen beobachten. Thomas
stand am Flugsteig, als sie die Rampe hinunterging, und sie konnte nicht
widerstehen, sich umzudrehen, um zu sehen, ob er wartete.
Sie hatte einen Fensterplatz zugewiesen bekommen, obwohl sie
normalerweise einen Platz auf der Gangseite bevorzugte. Sie setzte sich, und
als sie ihr Gepäck verstaute, bemerkte sie, daß der Mann, dessen Schirm
kaputtgegangen war (sie bezeichnete ihn in Gedanken immer als den Mann mit dem
Schirm), zu einem Platz in der ersten Klasse geführt wurde. Sie fragte sich
kurz, wo er wohnte, warum sein Zielort Boston war. Sie stellte sich vor, er sei
ein Leitmotiv in ihrem Leben und tauche in seltsamen Momenten auf – in einem
Taxi oder, entfernt von ihr, durch eine belebte Straße gehend. Sie fragte sich,
ob er bereits in ihr Leben getreten war, ohne daß sie es bemerkt hatte: in
einem Hotel in Afrika etwa. Oder bei einem Abendessen in Hull. Und es war
unmöglich, sich nicht vorzustellen, daß, wenn das Schicksal ihr Leben anders
eingerichtet hätte, er es gewesen wäre, der bei ihr am Flugsteig gestanden, der
sie so lange geküßt hätte. Niemand konnte diese Geheimnisse ergründen. Man
konnte Vermutungen anstellen. Daran glauben. Aber nicht wissen, niemals sicher
sein.
Sie nahm ein Buch aus der Tasche und öffnete es, obwohl sie zu
abgelenkt war, um zu lesen. In ihrem Regenmantel, der weißen Bluse und dem
schwarzen Rock hätte sie eine Anwältin sein können, die von einer Verhandlung
zurückkehrte; eine Ehefrau, die von einem Besuch bei Verwandten heimflog. Vor
ihrem Fenster hingen die Wolken tief, und sie sagte sich, ganz automatisch, daß
Starts sicherer waren als Landungen. Eine Stewardeß schloß die Tür, und kurz
danach setzte sich die Maschine in Bewegung. Linda sagte ein Gebet, wie sie es
immer tat, und dachte, daß Vincent um Jahre seines Lebens betrogen worden war,
und daß Marcus hart arbeiten müßte, um sich von seiner Sucht zu befreien. Sie
dachte an Marias Bedürfnis, ihr eigenes Leben zu führen, und an ihre Tante, die
in einem dunklen Wirtschaftsraum saß. Sie dachte an Donny T. mit seinen Dollars
und an eine Frau namens Jean, die sie nie kennengelernt hatte. An Regina, die
sie betrogen, und an Peter, den sie fast vergessen hatte. Sie dachte an Billie,
die über alle Maßen betrogen worden war. Und schließlich an Thomas, ihren
geliebten
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