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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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an sich, und sie mußte sich
klarmachen, daß jetzt nichts mehr verboten war. Und diese Erkenntnis war so
überraschend, daß sie sie fast ausgesprochen hätte, wie jemand, der plötzlich
mit einer Wahrheit herausplatzt. Sie drehte das Gesicht zur Seite, als er ihren
Hals und ihr Schlüsselbein küßte. Wie lange war es wohl her, daß er mit einer
Frau geschlafen hatte? Jahre? Eine Woche? Sie wollte es nicht wissen.
    In schweigendem Einverständnis standen sie auf und zogen ihre
Kleider aus, wobei jeder vermied, den anderen anzusehen, obwohl sie sich
gemeinsam umdrehten, um die Decke zurückzuschlagen, wie ein Ehepaar es tun
würde. Als sie nebeneinander auf die seidigen Laken glitten, dachte sie daran,
daß sie früher kein Bett hatten und die Betten später, genauso wie die
gemeinsamen Minuten, immer gestohlen, nie die ihren gewesen waren. Und dieser
Gedanke löste eine Flut von Bildern aus, die verlorengegangen waren, flüchtige
Augenblicke, die von all dem, was danach geschehen war, ausgelöscht worden
waren. Sie roch einen feuchten, von Salz durchdrungenen Pier, ihr Slip war naß
von Meerwasser. Sie sah in einem fremden Land ein Schlafzimmer, dessen Dach zum
Himmel geöffnet war. Sie sah einen Jungen, der scheu in einer Eingangstür
stand, mit einer Schachtel, die er selbst verpackt hatte. Sie spürte Thomas’
Atem an ihrem Hals und eine Lockerung in ihren Gliedern. Sie sah ein Glitzern
auf dem Wasser, während zwei Teenager auf einem Hügel über dem Atlantik saßen
und sich sehnlichst wünschten, das Licht festzuhalten, als wäre es Wasser oder
Nahrung und könnte wie ein Vorrat gespeichert werden.
    Thomas flüsterte in ihr Ohr. Sie hob die Hand und berührte seine
Narbe, strich mit den Fingern darüber. Sie fragte sich, wie seine Bilder
aussahen, was an ihm vorüberzog. Oder war es einfacher für einen Mann? Hatte
Thomas vielleicht, von der Begierde angefacht, ein Gefühl von Sendung, wenn er
sie mit seinem wundervollen Gespür für den richtigen Moment, für das richtige
Maß, berührte?
    »Ich habe dich immer geliebt«, sagte er.
    Sie legte die Finger auf seine Lippen. Sie wollte keine Worte, sie,
die normalerweise inständig danach verlangte, die sich, wenn nötig, völlig
entäußerte, um sie zu bekommen. Aber jetzt, dachte sie, jetzt konnte alles mit
dem Körper gesagt werden. Es gab Einzelheiten, kleine Details, wie etwa die
weichen Stellen an seiner Taille oder das dünner werdende Haar, mit denen sie
sich nicht aufhalten würde. Verleugnung war zuweilen wesentlich bei Sex oder
Liebe, dachte sie. Thomas glitt mit den Lippen über ihre Rippen, und es war
herrlich, und sie war froh, daß dies nicht verlorengegangen war. Und dann bewegte
er sich gegen sie, und sie hatte das Gefühl, als strebe sie wieder dem Licht
auf dem Wasser entgegen, als zerbräche das Licht in Millionen kleine Teile, die
ineinander verschmolzen und dann zersplitterten, bis das grelle Funkeln fast zu
blendend war, um es auszuhalten. Thomas richtete sich auf und betrachtete sie,
die jetzt keine Scheu empfand, die ihren Körper jetzt stolz gezeigt hätte, der
ihr so viel Freude bereitete. Und als sie kam, mit fest geschlossenen Augen
(diese blendenden Lichtsplitter), sagte er ihren Namen, und, o Gott, er klang
nicht gewöhnlich aus seinem Mund, ganz und gar nicht gewöhnlich. Sie öffnete
die Augen und sah die gleiche Freude, die seinen Körper, sein Gesicht
erschauern ließ, und nichts, dachte sie, nichts war schwächer geworden. Es war,
wie es immer gewesen war, die Erinnerung vermischte sich mit der Gegenwart, bis
sie das Hier und Jetzt nicht mehr von der Vergangenheit zu unterscheiden
vermochte.
    Und wer konnte sagen, welcher Stolz oder welche Dankbarkeit den Mann
erfüllte, der zur Seite rollte und sie umschlungen hielt? Ließ er sich, genau
wie sie, träumend in die Vergangenheit zurücktreiben?
    Eine Stimme im Gang weckte sie auf, und sie bemühte sich, durch
die Jalousien zu sehen. Es war immer noch dunkel, mitten in der Nacht. Sie
spürte Thomas’ Atem an ihrer Schulter. Sie dachte sofort, daß ihr gemeinsames
Kommen archaisch und primitiv war. Im Rückblick gesehen, schien es tatsächlich
vorbestimmt gewesen zu sein. Und zum erstenmal, seit Vincent gestorben war,
fühlte sich Linda erleichtert, allein auf der Welt zu sein, daß der
körperlichen Liebe mit Thomas nichts Heimliches und Verbotenes mehr anhaftete.
    Ihr Fuß war taub geworden, sie versuchte, ihn aus der Verschlingung
ihrer Gliedmaßen zu ziehen, ohne Thomas

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