Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
in Kenia verbreitet.
»Und wie geht’s Ihnen«, fragte Thomas, als das Mädchen
vorbeigegangen war.
»Oh, mir geht’s ganz gut. Mir ist kein Unglück widerfahren.« Ndegwa
zuckte die Achseln, das Lächeln verschwand, was seine Behauptung zu widerlegen
schien. Ndegwa war ein ausgezeichneter Lehrer und vermochte mit schnellen
Strichen alle überflüssigen Schnörkel aus Thomas’ Gedichten zu entfernen, und
dies in seinem Beisein.
»Obwohl mir meine Regierung sagt, daß ich keine Gedichte mehr
schreiben darf.«
Thomas trank einen Schluck und dachte an den Wurm. »Warum?«
Ndegwa rieb sich die Augen. »Sie behaupten, ich mache mich mit
meinen Gedichten über unsere Regierung und unsere Führer lustig.«
Was natürlich zutraf.
»Und deshalb wurde ich gewarnt.«
Thomas schreckte ein wenig aus seiner Zufriedenheit auf. Ndegwa war
als Lehrer besser denn als Schriftsteller, obwohl seine Lyrik einprägsam und
stark rhythmisch war und seine Worte einen im Innersten berührten wie Musik.
Auch wenn man sich oft an die Worte selbst nicht erinnerte, ging einem der
bestimmte Rhythmus von Ndegwas Versen nicht mehr aus dem Kopf.
»Das meinen Sie doch nicht im Ernst«, sagte Thomas.
»Ich fürchte, ich meine es sehr ernst.«
Thomas war verwirrt von Ndegwas ruhiger Haltung. »Was wäre, wenn Sie
eine Weile zu schreiben aufhörten?« fragte er.
Ndegwa seufzte und strich sich mit der Zunge über die Lippen. »Wenn
man Ihnen sagen würde, Sie dürften Ihre Gedichte nicht mehr veröffentlichen,
weil sie unerfreuliche Wahrheiten über Ihre Regierung enthielten, die die
Regierung dem Volk nicht mehr zu Gehör bringen lassen möchte, würden Sie
aufhören?«
Eine Entscheidung, die Thomas nie treffen, die er sich nie überlegen
müßte. Unfreundliche Worte über das eigene Land gehörten praktisch zum
nationalen Zeitvertreib.
Ndegwa drehte seinen massigen Leib vom Tisch weg und sah auf die
Menge hinaus. Der Dichter hatte ein Bantu-Profil. Seltsamerweise trug er eine
Damenarmbanduhr.
»In meinem Land bekommt man eine Verwarnung, damit man seine
Angelegenheiten regeln kann. Und dann wird man eingesperrt. Die Warnung ist das
Vorspiel für die Festnahme.«
Ndegwa trank gelassen sein Bier. Was folgte auf die Festnahme,
fragte sich Thomas, was geschah dann? Gefängnis? Tod? Sicher nicht.
»Sie wissen das?« fragte Thomas.
»Das weiß ich.«
»Aber was ist mit Ihrer Frau und Ihrem Baby?«
»Sie sind in meine Heimat zurückgekehrt.«
»Jesus.«
»Jesus hilft mir nicht viel.«
»Sie könnten fliehen.« Thomas suchte verzweifelt nach einer Lösung.
Er dachte wie ein Amerikaner. Alle Probleme waren lösbar, wenn man sich die
Lösung nur vorstellen konnte.
»Wohin? In meine Heimat? Dort würden sie mich finden. Das Land kann
ich nicht verlassen. Sie würden mir am Flughafen den Paß abnehmen. Und ganz
abgesehen davon, mein Freund, wenn ich ginge, würden sie meine Frau und meinen
Sohn festnehmen und drohen, sie umzubringen, wenn ich mich nicht stelle. Das
ist das übliche Vorgehen.«
Eines Freitagnachmittags, gegen Ende des Semesters, war Thomas im
Seminarraum geblieben, während Ndegwa den letzten Teil seiner Seminararbeit
gelesen und korrigiert hatte. Dann hatte Ndegwa auf seine Uhr gesehen und
gesagt, er müsse den Bus nach Limuru erreichen. Seine Frau habe letzten Monat
ihren ersten Sohn geboren, und er wolle zur Familien-Shamba fahren und das
Wochenende mit ihnen verbringen. Thomas, der sich der Anspannung, die sein
Wochenende mit Regina überschatten würde, so lange wie möglich entziehen
wollte, bot an, ihn hinzufahren – ein Angebot, das Ndegwa gern annahm. Thomas
und Ndegwa fuhren ins Hochland, an Teeplantagen vorbei auf einer Straße, die
parallel zu einem Feldweg verlief. Männer in Nadelstreifenanzügen und alte Frauen,
die sich unter der Last von Feuerholz beugten, beobachteten den vorbeifahrenden
Wagen, als wären Thomas und Ndegwa Abgeordnete einer diplomatischen Mission.
Auf der Fahrt stellten sie fest, daß sie Altersgenossen waren und am gleichen
Tag im gleichen Jahr geboren waren. Wäre Thomas ein Kikuju, erklärte Ndegwa,
wären sie beide mit zwölf beschnitten und für mehrere Wochen von ihrer Familie
und ihrem Stamm getrennt worden, um zum Mann zu werden. Danach hätte man sie
mit vielen Feierlichkeiten wieder in die Gemeinschaft aufgenommen. Thomas
gefiel der Gedanke: In seiner Kultur war die Mannwerdung eine vage und
unbestimmte Angelegenheit, sie wurde durch keine Zeremonie markiert und trat
allenfalls
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