Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
als individuelle und private Erfahrung ins Bewußtsein. Wann hast du
zum erstenmal Alkohol getrunken? Sex gehabt? Wann hast du den Führerschein
bekommen? Wann wurdest du eingezogen?
Am Ende der Straße stellten Thomas und Ndegwa den Wagen ab und
gingen einen langen unbefestigten Pfad zu einer rechteckigen Lehmhütte mit
blauem Wellblechdach hinunter. Außer einem kleinen Fleck festgestampfter Erde
vor dem Haus war der Boden bepflanzt. Das Haus stand auf einer Erhebung in
greller Sonne, so daß Thomas die Augen zusammenkneifen mußte. Eine ältere Frau
trat aus der Tür, sie trug ein Kitenge-Tuch um den Leib und ein weiteres um den
Kopf geschlungen. Ndegwa stellte Thomas seiner Mutter vor. Die breite Lücke in
ihrer unteren Zahnreihe, erklärte Ndgewa später, stamme daher, daß ihr in ihrer
Jugend sechs Zähne gezogen wurden, um ihre Schönheit zu vergrößern. Die Frau
trat vor, schüttelte ihm die Hand und kniff die Augen zusammen, als sie Thomas’
Namen hörte. Hinter ihr kamen scheu Ndegwas Schwestern der Reihe nach heraus
und begrüßten ihn auf dieselbe Weise. Ein Feuer brannte neben der Eingangstür,
und ein Zicklein lag mit durchschnittener Kehle auf dem Rücken. In seiner Rolle
als Gastgeber begann Ndegwa, ihr das Fell abzuziehen. Dabei legte er nicht
einmal sein Jackett ab. Die dünne Luft machte Thomas schwindlig, und beim
Anblick der Ziege wurde ihm flau im Magen. Als er sah, wie Ndegwa den ersten
Schnitt in die Haut am Bein machte und einen blutigen Lappen zurückklappte,
wandte er sich ab und ging zu den Bananenstauden hinüber. Eine der Frauen in
einem blauen Hosenanzug und roten Schuhen mit Plateausohlen trat auf ihn zu und
stellte sich als Mary, Ndegwas Frau, vor. Sie trug einen großen
Bergkristallring. Thomas war sich nicht sicher, ob er je so dick angeschwollene
Brüste gesehen hatte. Ihre Plateausohlen sanken aufgrund ihres Gewichts tief in
die Erde ein, aber sie überquerten gemeinsam den schmalen Streifen Gras, der
die Bananenstauden vom Maisfeld trennte.
Das Haus war von einem Garten mit großen Margeriten und
Jasminsträuchern umgeben, deren Duft so betörend war, daß Thomas sich gleich
auf den Boden legen wollte. Die sanfte Hügellandschaft war in ein vielfältiges
Muster aus Feldern eingeteilt: Die verschiedenen Schattierungen von Grün
flimmerten vor seinen Augen. Auf den Hügeln standen weitere Lehm- und
Wellblechhütten, der Himmel darüber war vom tiefsten Kobaltblau, das er in
diesem Land je gesehen hatte. Ein ganz gewöhnlicher Tag in Kenia, dachte er,
wäre in Hull ein Grund zum Feiern.
Mary befahl einem Kind, auf einem Holzkohleofen Wasser zu kochen,
und lud Thomas ein, in die Hütte zu treten.
Ein Sofa, mit rotem Plastikstoff bezogen, und zwei dazu passende
Stühle schmückten den Wohnraum. In der Mitte stand ein kleiner Plastiktisch,
und Thomas mußte über den Tisch steigen, um sich zu setzen. Der Boden bestand
aus Lehm, und Thomas fragte sich, wie der bei heftigem Regen wohl aussähe. Das
Sonnenlicht, das durch die Tür einfiel, ließ die Farben der Landschaft grell
erglühen. Er wußte, er wäre nie in der Lage, sie zu beschreiben: Es hatte mit
dem Licht und der Beschaffenheit der Luft am Äquator zu tun – die von
besonderer Feinheit war. Wenn man die Farben eines Landes nicht beschreiben
konnte, was blieb einem dann?
An den Wänden hingen gerahmte Coca-Cola-Reklamen und Fotos von starr
posierenden Familienangehörigen. Aus einem batteriebetriebenen Plattenspieler
ertönte unglaublicherweise ein amerikanischer Song: Put your
sweet lips a little closer to the phone. Thomas wurde ein Glas warmes
Bier angeboten, das er in einem Zug hinunterstürzte. Mary lachte und goß ihm
nach. Er versuchte, nicht überrascht auszusehen, als sie ihm sagte, sie sei
ebenfalls Dichterin und besitze außerdem ein Diplom für Rechtsmedizin der
Universität Kampala. Sie sei zur Geburt ihres ersten Kindes, das jetzt einen
Monat alt war, in die Shamba der Familie zurückgekehrt. Sie fragte ihn, warum
er sich im Land aufhalte. Er sei im Land, weil Regina hier sei, und Regina sei
im Land, weil sie ein Stipendium habe, um die psychischen Auswirkungen von
Tropenkrankheiten auf kenianische Kinder unter zehn Jahren zu untersuchen. Das
Stipendium sei von der UNICEF . Thomas bemerkte, daß
sich Ndegwa von Zeit zu Zeit hinters Haus zurückzog, um mit Männern zu
sprechen, die vor allem seinetwegen gekommen waren. Vage bekam er mit, daß sich
die Gespräche um Politik drehten.
»Mein Mann sagt, Sie
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