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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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seien ein wundervoller Dichter.«
    »Ihr Mann ist sehr freundlich.«
    »In Ihrem Land ist das Schreiben von Gedichten keine gefährliche
Arbeit?«
    »In meinem Land wird das Schreiben von Gedichten nicht als Arbeit
angesehen.«
    »In meinem Land kann so etwas zuweilen sehr gefährlich sein. Aber
Sie schreiben nicht über mein Land?«
    »Nein. Ich kenne es nicht gut genug.«
    »Ah«, sagte Mary geheimnisvoll und tätschelte sein Knie. »Und Sie
werden es auch nicht kennenlernen.«
    Zwei der Schwestern brachten eine Sufuria mit Stücken verbrannten
Ziegenfleischs herein. Ein Schenkelknochen ragte heraus. Ndegwa schnitt das
knusprige schwarze Fleisch auf einem Holztisch mit einer Machete auf und
reichte Teller mit den glänzenden Stücken im Raum herum. Thomas hielt seinen
Teller auf dem Schoß fest, bis er sah, daß Mary die Finger benutzte. Das Fett
auf dem Bergkristall war phantastisch.
    Das Essen war qualvoll. Ndegwa reichte Thomas einen Teller mit
ausgesuchten Leckerbissen, die dem Ehrengast vorbehalten waren. Er erklärte,
daß es sich um die Innereien der Ziege handle – Herz, Lunge, Leber und Hirn –
und daß sie besonders köstlich seien. Um Thomas zu ermuntern, trank Ndegwa das
rohe Blut, das beim Schlachten der Ziege aufgefangen worden war. Die
Delikatessen abzulehnen, das wußte Thomas bereits nach einem halben Jahr
Aufenthalt im Land, war nicht möglich, ohne sich in Verlegenheit zu bringen und
Ndegwa zu beleidigen. Es hätte ihm nichts ausgemacht, selbst in eine peinliche
Situation zu geraten, aber seinen Lehrer wollte Thomas nicht beleidigen. Ihm
drehte sich der Magen um. Er griff mit den Fingern in die Schüssel, schloß die
Augen und aß.
    Es war eine weitere afrikanische Erfahrung, wie er sofort wußte, die
sich niemals beschreiben ließe.
    Nach einer Weile erhob sich Mary und entschuldigte sich, weil sie
sich nicht wohl fühle und ihr Baby stillen müsse. Ndegwa lachte und fügte
hinzu: »Ihre Brüste sind so groß, daß sie jetzt ein gebeugter Baum ist.«
    Die Verabschiedungen, erinnerte sich Thomas, dauerten eine Stunde.
    »Jetzt wissen Sie, wo Sie uns finden, wenn Sie wiederkommen wollen«,
sagte Ndegwa zu Thomas, als er ging.
    »Ja, danke.«
    »Machen Sie sich nicht rar.«
    »Nein, das werde ich nicht.«
    »Das nächstemal haben wir zwei Ziegen.«
    »Wunderbar«, sagte Thomas.
    »Wann werden Sie Ihrer Meinung nach verhaftet?« fragte Thomas
Ndegwa im Café.
    »In einer Woche? In zwei Wochen? In fünf Tagen? Ich weiß nicht.«
Ndegwa machte eine fahrige Handbewegung, um seine Unsicherheit zu
unterstreichen.
    »Ist ein Gedicht es wert, dafür zu sterben?«
    Ndegwa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Ich bin eine
Symbolfigur für viele meinesgleichen. Ich bin eine bessere Symbolfigur, wenn
ich im Gefängnis sitze und die Leute von mir hören und über mich lesen, als
wenn ich fliehe.«
    Thomas nickte und versuchte, die politische Tat zu verstehen. Er
versuchte, die Überlegungen eines Mannes zu verstehen, der einer Idee wegen
sich und seine Familie in Gefahr brachte. Im Verlauf der Jahrtausende waren
Männer in großer Zahl für Ideen gestorben. Aber ihm fiel keine einzige Idee ein,
für die es sich zu sterben lohnte.
    Er wollte Ndegwa sagen, daß seine Arbeit zu gut war, um aus
politischen Gründen geopfert zu werden. Aber wie kam er dazu, so etwas zu
sagen? Wer konnte sich in diesem Land, in dem so viel Leid herrschte, den Luxus
von Kunst erlauben?
    »Wohnen Sie bei Regina und mir«, sagte Thomas. »In Karen wird man
Sie nicht suchen.«
    »Wir werden sehen«, antwortete Ndegwa. Es klang unverbindlich, er
hatte sich schon anderweitig verpflichtet. Er war schon so gut wie verhaftet.
    Der massige Mann stand auf. Bedrückt erhob sich Thomas mit ihm. Ein
Gefühl der Hilflosigkeit überkam ihn. »Sagen Sie mir, was ich tun kann«, bat
Thomas.
    Ndegwa wandte den Blick ab und sah ihn dann wieder an. »Sie können
meine Frau besuchen.«
    »Ja«, sagte Thomas. »Natürlich.«
    »Das müssen Sie mir versprechen.«
    »Ja.« Ihm schien, als entdeckte er einen leisen Anflug von Angst auf
Ndegwas Gesicht.
    Thomas bezahlte das Bier und verließ das Thorn Tree. Er fühlte
sich benommen und desorientiert. Es war der Alkohol auf nüchternen Magen. Oder
Ndegwas Neuigkeiten. Ein Mann kam auf ihn zu, der, abgesehen von einer
Papiertüte, nichts auf dem Leib hatte. Die Tüte war an den Seiten aufgerissen,
um die Beine durchstecken zu können, und er hielt die beiden Öffnungen mit den
Händen fest. Es sah aus,

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