Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)
von denen keiner beantwortet
wurde. Und dann kam der Herbst, und er hatte sich in Harvard eingeschrieben.
Sie hatte sich für Middlebury entschieden. Er hatte sich dann gezwungen, es
aufzugeben und ihr Schweigen als Strafe hinzunehmen.
Die zehn Jahre hatten sie verändert. Sie sah jetzt wie eine Frau
aus. Ihre Brüste waren nackt unter der Bluse, und er bemühte sich, nicht darauf
zu sehen.
»Wir wohnen in Karen«, sagte er.
Sie nickte langsam.
»Es liegt westlich von hier.« Er machte mit der Hand eine Bewegung
in eine Richtung, die Westen sein mochte.
»Ich kenne den Ort.«
»Ich hatte nie Gelegenheit, dir zu sagen, wie leid es mir tat«,
sagte er. »Ich habe versucht, dir zu schreiben.«
Sie sah weg. Der tiefe V-Ausschnitt entblößte gerötete Haut.
»Wegen des Unfalls«, sagte er. »Er war unverzeihlich. Wenn ich nicht
so schnell gefahren wäre. Wenn ich nicht getrunken hätte.«
Sie blickte rasch zu ihm auf. »Ich war dabei. Ich war genauso daran
beteiligt wie du.«
»Nein, das warst du nicht. Ich war derjenige, der gefahren ist.«
Sie streckte die Hand aus und berührte sein Handgelenk. Die
Berührung war so elektrisierend, daß er zusammenzuckte. »Thomas, wir wollen es
gut sein lassen. Es ist Jahre her. Alles hat sich verändert inzwischen.«
Ihr Kanga war nur ein einziges Stück Stoff, das sie wie die
afrikanischen Frauen um die Taille geschlungen hatte. Ein winziger Ruck, und er
würde auf ihre Sandalen hinabgleiten. Darüber konnte er jetzt nicht nachdenken.
»Ich möchte nur wissen, wohin sie dich geschickt haben«, sagte er.
»Das habe ich mich immer gefragt.«
Sie zog die Hand zurück. »Ich ging zu Eileen nach New York.«
Er nickte langsam.
»Dann ging ich nach Middlebury.«
Er holte tief Luft.
»Es gibt so viel nachzuholen«, sagte sie. Wie vielleicht jede Frau
gesagt hätte, um Normalität herzustellen.
»Wie geht’s deiner Tante?« fragte er, sich einen Moment lang fügend.
Sie preßte die Lippen aufeinander und zuckte mit den Achseln. Die
Beziehung zu ihrer Tante wäre wohl immer schwierig. »Wie üblich, schätze ich.«
»Warum hast du meine Briefe nicht beantwortet?« fragte er zu schnell – schließlich unfähig, die Normalität aufrechtzuerhalten.
Sie hob die Hand und strich eine Haarsträhne hinters Ohr. »Ich habe
keine Briefe bekommen.«
»Du hast meine Briefe nicht bekommen?«
Sie schüttelte den Kopf.
Seine Brust fühlte sich wie zusammengeschnürt an.
»Also«, sagte sie. Das leichte Stirnrunzeln verschwand. »Du bist
beim Einkaufen?«
»Oh«, sagte er. Verwirrt. »Ich bin fertig mit Einkaufen. Zumindest
mit meinem Teil. Obwohl ich Cashew-Nüsse besorgen sollte.« Er hoffte, sie würde
den Biergeruch in seinem Atem nicht bemerken. Es war noch nicht einmal Mittag.
Aus dem Augenwinkel sah er, daß Regina sich näherte. Sie trug eine
Strohtasche voller Lebensmittel auf den Armen. Panik ergriff ihn. Er wollte
unbedingt mit Linda sprechen, bevor Regina zu ihnen stieß.
»Linda«, sagte er, brach aber dann ab. Ihm fiel kein einziges Wort
ein.
Sie sah schnell zu ihm auf, und er hielt ihren Blick fest.
Regina stand neben ihm, und verlegenes Schweigen trat ein. Linda
lächelte in Reginas Richtung. »Hallo. Ich bin Linda Fallon.«
Thomas bemühte sich, die Fassung zu wahren. Er sah Regina an und
fragte sich, ob Lindas Name ihr etwas sagte. Er hoffte nicht. »Linda, das ist
meine Frau Regina.«
Regina stellte die Strohtasche ab und schüttelte Lindas Hand.
Reginas pinkfarbene ärmellose Bluse zeigte Flecken unter den Armen, das Haar
hing ihr wirr und verschwitzt ums Gesicht. Sie sah Thomas an, seine leeren
Hände. Sie trug Shorts, was ihm peinlich war.
»Hast du das Obst nicht gekauft?« fragte Regina. Selbst jetzt mit
einem leicht weinerlichen Unterton.
»Es ist im Auto.«
Sie sah ihn eindringlich an. »Hast du Migräne?«
Linda sah weg.
Thomas bemühte sich, unbeteiligt zu sprechen, was ihm allerdings
nicht gelang. »Linda ist eine alte Freundin. Aus Hull.«
Regina wandte sich der Fremden zu. »Wirklich? Sind Sie auf Safari?«
»Nein. Ich bin beim Friedenscorps.«
»In Nairobi?«
»In Njia.«
»Ach, wirklich. Was machen Sie?«
»Ich unterrichte.«
»Oh, wow.« Das Wow klang mechanisch, ohne
Emotion. Hinter Linda packte der Händler seine übriggebliebenen Waren zusammen.
»Sie schließen«, sagte Thomas. Hin und her gerissen zwischen dem
Wunsch, die beiden Frauen möglichst rasch voneinander zu trennen, und dem
Wunsch, seine Unterhaltung mit Linda
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