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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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nicht abzubrechen. Er wollte sie so viel
fragen, Fragen, die ihm jahrelang durch den Kopf gegangen waren.
    Linda sah demonstrativ auf ihre Uhr. »Ich muß mich beeilen. Peter
erwartet mich zum Lunch.«
    Der Name traf ihn wie eine Kugel in die Brust. Daß es einen Peter
gab, war zu erwarten, dennoch schockte ihn der Name.
    Linda wandte sich Regina zu. »Ich habe mich gefreut, Sie
kennenzulernen.« Sie sah Thomas an. Es gab nichts, was sie hätte sagen können.
Also lächelte sie nur.
    Thomas beobachtete, wie sie fortging. Alles Blut in seinen Adern
strebte ihr nach.
    Er beugte sich hinunter, um Reginas Tasche zu nehmen. Er mußte etwas
tun, um die Leere in seinem Innern zu verbergen. Regina schwieg, während sie
durch die Stände in die Mittagssonne hinausgingen.
    »Roland und Elaine haben uns zum Abendessen eingeladen«, sagte sie.
    Roland, Reginas Supervisor, war ein Arschloch, aber Thomas war
erleichtert, daß eine Party anstand. Einen ganzen langen Abend mit Regina im
Haus, das würde er nicht aushalten. Nicht heute abend.
    »War das nicht das Mädchen, mit dem du während der High-School
gegangen bist?«
    Er zwang sich, beiläufig, sogar gelangweilt zu klingen. »Ein paar
Monate lang.«
    »Und hattest du nicht irgendeinen Unfall mit ihr zusammen?«
    »Sie saß im Wagen.«
    Regina nickte. »Jetzt erinnere ich mich. Du hast es mir erzählt.«
    Thomas stellte die Tasche in den Kofferraum. Er öffnete die
Fahrertür und stieg ein; der Sitz war so heiß, daß er sich die Schenkel
verbrannte. Der Junge auf dem Parkplatz beobachtete ihn und wartete auf ein
Trinkgeld. Thomas kurbelte das Fenster herunter, und der Junge war im Nu bei
ihm.
    Regina setzte sich neben ihn. »Blondinen sollten nicht so viel in
die Sonne gehen«, sagte sie. »Ist dir aufgefallen, wie ruiniert ihre Haut
aussieht?«
    Er stand auf Rolands Veranda, ein Pimm’s in der Hand, und das
Gefühl, das seine Brust durchströmte, das aber nicht von einem eben erst
vergangenen Erlebnis herrühren konnte, mußte Freude sein. Ein Gefühl, das bis
zu den Schenkeln hinab zu spüren war. Am Anfang des Abends, als er inmitten
eines Gewirrs aus kühlen, aber paradoxerweise freundlichen Bemerkungen eintraf – ›Roland, sind die Amerikaner nicht komisch, wie sie überall zu Fuß hingehen?
Also, dieses Kleid gefällt mir‹ –, spürte er, wie gering seine Aufmerksamkeit
war, wie widerwillig er sie sich abnötigen ließ. Und deshalb suchte er Zuflucht
auf der Veranda, wo bis jetzt noch niemand war.
    Und er wußte, daß er verliebt war. Wie noch nie im Leben. Nicht seit
jenem Tag 1966, als ein Mädchen in grauem Rock und weißer Bluse über die
Schwelle eines Schulzimmers trat. Es war, als wäre er in all den Jahren bloß
abgelenkt gewesen oder hätte es satt gehabt, nur Erinnerungen zu lieben. Und wäre
nun, entgegen aller Erwartung, wieder in seinen rechtmäßigen Zustand
zurückversetzt worden. Er lebte nicht mehr von Erinnerungen, sondern war
genesen. Wie ein Blinder, der einst sehen konnte, lernt, mit seinem Gebrechen
zu leben und sich an seine dunkle Welt zu gewöhnen, und dann, Jahre später,
wenn er verblüffenderweise wieder sehen kann, weiß, wie herrlich seine Welt
früher war. Und all das nur wegen eines unvermuteten Wiedersehens und des
Austauschs von einem Dutzend Sätzen – die in sich schon kleine Wunder waren.
    Die Veranda ging auf einen Garten mit Hibiskus und Margeriten
hinaus, die im Licht der Laternen in den Bäumen einen geisterhaften Glanz
verströmten. Am Äquator ging die Sonne jeden Abend zur gleichen Zeit unter, wie
ein Licht, das ohne alle Vorankündigung, ohne trüber zu werden, einfach
erlosch, eine Tatsache, die Thomas verwirrend fand. Er vermißte das langsame
Verdämmern eines Sommerabends, und selbst die Morgendämmerung hatte er kaum je
gesehen. Zu seiner Verwunderung vermißte er auch den Schnee, und gelegentlich
träumte er nachts davon. Jetzt stand er auf gleicher Höhe mit der Krone eines
Avocado-Baums, der schwer an Früchten trug – so nahe, daß er sich nur hätte
vorbeugen müssen, um eine der grünen ledrigen Früchte zu pflücken. Er erinnerte
sich, daß er vor seiner College-Zeit nie eine gegessen hatte, weil die Frucht
für die calvinistische Küche seiner Mutter viel zu exotisch war. Sie hielt
Ketchup für Gemüse.
    Roland hatte darauf bestanden, daß er ein Pimm’s nahm, ein süßliches
Getränk aus Gin und Gingerale, obwohl Thomas ein schlichtes Bier gewollt hätte.
Roland war zu Hause so herrisch wie bei der

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