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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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am Sonntag getan hast. Ist das zuviel
verlangt?
    Thomas
    PS : Die Schlagzeile von heute: FRAU IM BUSCH VON HYÄNE ANGEFALLEN .
    15. Dezember
    Lieber Thomas,
    ich schreibe Dir aus einem Krankenhaus namens Maria Magdalena (nein,
das habe ich nicht erfunden), wohin ich David bringen mußte, den Jungen, der im
Klassenzimmer den Hustenanfall bekam, als er auf meinem Schoß saß. Ein tapferer
Junge, der sich weigert, sich ausschließen zu lassen. Er leidet an einer
mysteriösen Krankheit, die die Ärzte nicht kennen – sie verursacht
Lungenentzündung und zehrt ihn so aus, daß er nicht mehr auf die Beine kommen
wird, wie ich fürchte. Man hat ihn zur Untersuchung hierbehalten, und ich bleibe
bei ihm, weil seine Mutter ebenfalls krank ist und ihre Hütte nicht verlassen
kann. Eine Tochter kümmert sich um die kleineren Kinder. Ach, Thomas, wir
hatten keine Ahnung, was Elend bedeutet, nicht wahr?
    Das Krankenhaus ist klein und wurde in den dreißiger Jahren gebaut,
um gefallene Mädchen europäischer Abstammung aufzunehmen, deren Eltern zu arm
waren, um sie zur Geburt der Babys nach Europa zurückzuschicken (oder die kein
Geld für so hoffnungslose Fälle ausgeben wollten. Wohin die Kinder wohl kamen,
frage ich mich). Derlei interessiert jetzt natürlich niemand mehr, und das
Krankenhaus ist inzwischen eine Art Notfallstation für die Region geworden. Es
gibt einen belgischen Arzt hier, der sehr gut ist. Er ist jung und lustig, und
alle Frauen verlieben sich in ihn. Ich glaube nicht, daß er je zum Schlafen
kommt; er ist immer hier, wenn ich herkomme. Davids Fall ist ihm ein Rätsel,
und so hat er Blutproben zur Analyse nach Brüssel geschickt. Wie kann ein Arzt
eine Krankheit behandeln, für die er nicht einmal einen Namen hat?
    Schwester Mary Patrick, die ebenso furchteinflößend wie korpulent
ist, geht ständig an mir vorbei und wirft mir mißbilligende Blicke zu. Zu Recht
wahrscheinlich, obwohl ich glaube, nur wegen meines Kangas. Vielleicht erkennt
sie aber auch das gefallene katholische Mädchen in mir, weil ich auf das
gespenstische Kreuz an der gegenüberliegenden Wand starre, das Mädchen, das
über die Begriffe von Freude, Schuld und Strafe nachzugrübeln pflegte. Die
Nonne geht schweigend vorbei, und unsere Blicke treffen sich – ich kann nicht
anders. Vielleicht halte ich nach einem Zeichen, nach einer Botschaft von ihr
Ausschau? –, und ich fühle mich ausgesetzt und noch nackter, als ich aufgrund
meiner saloppen Kleidung ohnehin schon bin.
    Ich habe Dir nicht gesagt, daß Peter unerwartet auftauchte, nachdem
Du gegangen warst. Ich war wie vom Donner gerührt bei diesem zweiten
unerwarteten Besuch am selben Tag und schreckte an der Tür zurück. Er hielt
meine Bestürzung für einen ganz normalen Ausdruck der Überraschung, die er ja
auch beabsichtigt hatte. Dabei spürte ich Dich noch auf meiner Haut. Ich mußte
Krankheit vorschützen, Erschöpfung, irgendwas. Ich schämte mich nicht, weder
für Dich noch für uns, aber für meine Angst, daß alles herauskäme.
    Ach, Thomas, trotz allem bin ich so glücklich.
    Gestern habe ich die Kinder nach Nyeri gebracht, wo zu Ehren Jomo
Kenyattas eine Parade stattfand. Dreißig Kinder in zwei VW -Busse
und einen Peugeot 504 gezwängt (man mag gar nicht genauer darüber nachdenken).
Wir standen auf einem Hügel und sahen uns die Vorbeimarschierenden an, die
Stammeskleidung, Turnschuhe und Coca-Cola-Sonnenbrillen trugen und Eis am Stiel
lutschten. Wir hörten einer Rede Kenyattas zu, der über Harrambee und die
Zukunft Kenias sprach. In Gegenwart der Kinder mußte man natürlich Respekt
zeigen und die Ironie bei der Benutzung des Wortes Freiheit überhören, obwohl Männer wie Ndegwa im Gefängnis schmachten. (Hast du irgendwas
von Deinem Marine gehört?) Obwohl man sagen muß, daß sowohl unter den
Zuschauern wie den Teilnehmern der Parade große Spannung spürbar war: Kenyatta
ist nicht mehr so beliebt, wie er einmal war. Worauf ich hinaus will, ist, daß
ganz plötzlich und ohne Vorwarnung Panik auf dem Hügel ausbrach und alle wie
wild die Flucht ergriffen. Hunderte von Leuten begannen loszurennen, ohne zu
merken, daß sie in Richtung eines Stacheldrahts liefen. Die Hysterie war
ansteckend. Wir scheuchten die Kinder zu einem festen Kreis zusammen, ließen
sie niederkauern und beschützten sie mit unseren Körpern. Zuerst dachte ich,
Kenyatta sei erschossen worden, dann dachte ich, es sei ein Putsch. Peter bekam
einen Stoß in den Rücken. Soldaten mit

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