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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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zur
Sicherheit vor Dieben und politischen Gegnern ein Wagen voraus und einer
hinterher. Sollte er auf der A 104 von einer Macheten-Gang gestoppt werden,
müssen seine Lakaien die Schläge einstecken. Außerdem hat er – wie mir gesagt
wurde – ein geheiztes Schwimmbad in Lavington, eine Mercedes-Flotte und eine
Menge Geld auf einem Konto in der Schweiz. Ich frage mich, was er wohl über die
bloßen Füße der Kinder gedacht hat.
    Ich sitze hinter dem Haus unter einem Dornbaum, dessen Zweige mir
die Illusion von Schatten spenden. Von den Chrysanthemenfeldern streicht der
Wind herüber, und die Fieberbäume ächzen. Auf einem Ast über mir sitzt geduldig
wartend ein Geier, was mir sagt, daß irgendwo frischgeschlagenes Wild liegen
muß. Ich möchte mir weder vorstellen, um was für ein Tier es sich handelt, noch
wer es getötet hat. Wundervolle Stare mit irisierend türkisfarbenem Federkleid
zwitschern in den Ästen, aber der Geier läßt sich nicht stören. Es ist kaum zu
glauben, daß heute Thanksgiving ist, jedenfalls kommt es mir komisch vor, einen
Feiertag zu begehen, wenn alle anderen bei der Arbeit sind.
    Ich fühle mich manchmal wie betäubt, wenn ich aus dem dunklen
Schulraum oder meinem Haus ins grelle Licht des afrikanischen Mittags hinaustrete:
es blendet mich und macht mich schwindlig, als hätte ich einen Schlag auf den
Kopf bekommen. Ich habe keine Orientierung, mir wird sogar leicht übel, und ich
kann nichts essen. Ich gehe durchs Haus und fasse Dinge an, weil Du sie berührt
hast. Einen Rilke-Band. Einen Teller, auf dem Gelee lag. Eine Haarbürste, aus
der ich die kastanienfarbenen Haare noch nicht entfernt habe. Es ist eine Art
Irrsinn, nicht wahr? Eine Krankheit, die mich befallen hat. Oder besser gesagt,
der erneute Ausbruch eines chronischen Leidens. Doch dieser Ausbruch ist
tödlich, dessen bin ich mir sicher.
    Ich glaube, daß Worte die Liebe eher zerreden und kaputtmachen, und
es ist besser, nicht darüber zu schreiben. Selbst das Gedächtnis ist morsch und
brüchig.
    Ich war Dir immer treu. Wenn Treue die Erfahrung meint, an der alles
andere gemessen wird.
    Immer die Deine,
    Linda
    1. Dezember
    Liebe Linda,
    als ich Dich verlassen habe und wir vereinbarten, daß wir uns
schreiben wollten, dachte ich, daß Du es nicht tun würdest, daß Dein übertriebenes
Schuldgefühl Dich zum Schweigen verurteilte. Schlimmer noch, ich befürchtete,
daß, wenn ich in den Wagen steigen und nach Njia fahren würde, Du Dich genauso
spurlos auflösen würdest wie die Nebelschleier aus den Sümpfen vor Deinem Haus.
So daß ich, als ich Deinen Brief im Briefkasten sah – den lavendelfarbenen
Umschlag und die zarte, rückwärts geneigte Schrift –, weinte. Direkt dort, vor
den Blätter kauenden mzees und den Schuljungen, die Steine nach einem
Wildkaninchen warfen. Ohne mich zu schämen, kein bißchen. Ich empfand nur
Freude und ungeheure Erleichterung.
    Magdalena. Schöne Magdalena. Verloren und wiedergefunden. Ich glaube
nicht, daß ich bis jetzt überhaupt wußte, was Glück ist.
    Was Regina anbelangt: Soll ich Dir von dem stummen Zorn erzählen,
mit dem ich begrüßt wurde, als ich am Sonntagabend zurückkam, der um so
empfindlicher traf, als er mir zu Recht entgegenschlug? Oder von dem Gleichmut – der ihr ansonsten fremd ist –, mit dem sie die grauenvollsten Fälle von
Kinderkrankheiten betrachtet (kenianische Kinder sind trotz ihres Schicksals
die wohlerzogensten der Welt; dahinter verbirgt sich eine Erziehungsform, deren
Geheimnis ich noch nicht ergründen konnte), oder von ihrem Wunsch, selbst ein
Kind zu bekommen, der unablässig an ihr nagt? Nein, das werde ich nicht. Ich
liebe Regina. Doch das ist bedeutungslos. Ich nehme an, daß Du auch Peter
liebst – über den Du am Sonntag aus gutem Grund geschwiegen hast.
    Ich erinnere mich an Deinen Körper auf dem Bett. Das wird für lange
Zeit alles sein, was möglich ist.
    Ich finde Dich so wunderschön. (Hast Du einen Spiegel? Ich habe
vergessen, darauf zu achten. Wir haben keinen. Regina benutzt den Wasserkessel,
wenn sie sich schminkt.)
    Der Beweis meiner Treue: Alle meine Gedichte sind über Dich, auch wenn
es nicht so scheint. Genauer gesagt, sie handeln alle von dem Unfall, falls Du
die Aufrichtigkeit meines Schuldgefühls bezweifelt haben solltest. Ich glaube
nicht, daß Du sie in der Bibliothek des British Council finden wirst.
    Ich kam mir untreu vor, in meinem Haus an Dich zu schreiben – untreu
gegenüber Dir oder Regina? Euch beiden

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