Der weiße Reiter
Er
hatte keinen Umhang mehr, und auch die Stiefel waren verschwunden. Ich ließ ihn dort sitzen und ging zur Nonnenkirche, in
der ich einem der Betrunkenen auf die Beine half und ihn dazu überredete, schlafen zu gehen. Ich führte ihn durch die Hintertür
in den Latrinenhof, wo ich ihn mit zwei Fausthieben niederstreckte. Mit seinem Umhang und seinen Stiefeln kehrte ich zu Alfred
zurück.
Der König schien sich ein wenig erholt zu haben. Sein Gesicht war voller Blutergüsse. Er blickte zu mir auf, ohne |320| sich überrascht zu zeigen, und rieb sich das Kinn. «Mein Harfenspiel hat keinem gefallen», sagte er.
«Den Dänen gefällt eben nur gute Musik», sagte ich. «Zieht das hier an.» Ich warf ihm die Stiefel zu, legte ihm den Umhang
über die Schultern und forderte ihn auf, die Kapuze in die Stirn zu ziehen. «Wollt Ihr sterben?», fragte ich verärgert.
«Ich will mehr über meine Feinde erfahren», antwortete er.
«Was Ihr wissen müsst, habe ich in Erfahrung gebracht», entgegnete ich. «Es sind ungefähr zweitausend, die die Stadt besetzt
halten.»
«Das entspricht auch meiner Schätzung.» Er zog eine Grimasse. «Was ist das, hier, auf dem Mantel?»
«Dänische Kotze», antwortete ich.
Er schüttelte sich. «Ich bin von dreien angefallen worden», sagte er und schien immer noch erstaunt darüber zu sein. «Sie
haben mich getreten und geprügelt.»
«Wie gesagt, den Dänen gefällt nur gute Musik», sagte ich und half ihm vom Boden auf. «Ihr könnt von Glück reden, dass sie
Euch nicht getötet haben.»
«Sie hielten mich für einen Dänen», sagte er und spuckte Blut, das aus seiner geschwollenen Unterlippe quoll.
«Danach seht Ihr gar nicht aus», erwiderte ich. «Wer Euch für einen Dänen hält, muss sturzbetrunken sein.»
«Ich habe so getan, als wäre ich ein stummer Musiker», flüsterte er und mühte sich, offenbar stolz auf seine List, ein Grinsen
ab. Doch auch damit konnte er mich nicht heiterer stimmen. Er seufzte. «Ja, sie waren sehr betrunken. Aber ich muss wissen,
in welcher Stimmung sie sind, Uhtred. Sind sie zuversichtlich? Bereiten sie einen Angriff vor?» Er legte eine Pause ein, um
sich das Blut von den |321| Lippen zu wischen. «Darüber wollte ich mir mein eigenes Urteil bilden. Deshalb bin ich hierhergekommen. Hast du Steapa gesehen?»
«Ja.»
«Ich will, dass er mit uns die Stadt verlässt.»
«Herr», sagte ich wütend. «Ihr seid ein Narr. Er ist angekettet und wird streng bewacht.»
«Daniel war in einer Löwengrube gefangen und konnte trotzdem entfliehen. Der Apostel Paulus war eingekerkert und wurde von
Gott befreit.»
«Dann überlasst es Gott, sich um Steapa zu kümmern», entgegnete ich. «Ihr kommt jetzt mit mir. Sofort.»
Er krümmte sich vor Schmerzen. «Sie haben mir mit der Faust in den Magen geschlagen», sagte er, als er sich wieder aufrichtete.
Und morgen, dachte ich, würde man ein dickes blaues Auge an ihm bestaunen können. In diesem Moment johlte die Menge im Hof
besonders laut. Entweder war Steapa getötet worden, oder er hatte seinen Gegner geschlagen. «Ich will in meinen Palas», sagte
Alfred dickköpfig.
«Warum?»
«Ich gehöre zu den Männern, die zu Hause nach dem Rechten sehen. Komm mit oder bleib hier.»
«Wollt Ihr von Guthrum erkannt werden? Wollt Ihr sterben?»
«Guthrum wird mich nicht sehen. Ich will nur von außen einen Blick auf mein Haus werfen.»
Er ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen. Also führte ich ihn durch den Hof auf die Straße und spielte mit dem Gedanken,
ihn mit Gewalt zur Mühle zurückzuschleifen, doch ich befürchtete, dass er sich wehren und womöglich so lange herumzetern würde,
bis die Dänen kämen, um herauszufinden, wer da so schrie. «Ich frage |322| mich, was den Nonnen widerfahren ist», sagte er, als wir das Kloster verließen.
«Eine von ihnen muss sich für ein paar Pennys besteigen lassen», sagte ich.
«Herr im Himmel!» Er bekreuzigte sich und machte kehrt, und mir war klar, dass er die Frau retten wollte. «Das ist Wahnsinn!»,
herrschte ich ihn an und zerrte ihn hinter mir her.
«Aber notwendiger Wahnsinn», entgegnete er ruhig und blieb stehen, um mich zu bekehren. «Das Volk von Wessex glaubt, ich sei
geschlagen und die Dänen hätten gesiegt. Viele haben sich ihrem Schicksal ergeben. Umso wichtiger ist es, dass ich meinen
Untertanen Mut mache. Sie sollen erfahren, dass der König lebt und seine Feinde zum Narren hält, indem er sich
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