Der weiße Reiter
unter sie begibt.»
«Sie werden erfahren, dass man ihm die Nase blutig und ein Auge blau geschlagen hat», sagte ich.
«Ich wünsche, dass du das für dich behältst», entgegnete er, «und genauso wenig erzählst du von dieser bemittleidenswerten
Frau, die mich mit einem Aal geschlagen hat. Wir müssen dafür sorgen, dass die Menschen neue Hoffnung schöpfen. Diese Hoffnung
wird im Frühjahr zu unserem Sieg erblühen. Denk an Boethius, Uhtred! Verliere niemals die Hoffnung.»
Überzeugt davon, dass Gott ihn schützte, fürchtete er im Lager seiner Feinde keinerlei Gefahr, und in gewissem Sinne hatte
er recht, denn die Dänen waren gut versorgt mit Bier, Birkenwein und Met. Die meisten von ihnen waren viel zu betrunken, als
dass sie sich um einen armen Schlucker mit einer zerbrochenen Harfe gekümmert hätten.
Keiner hielt uns auf, als wir die königliche Festung betraten. Vor dem Tor des Palas jedoch hielten sechs Soldaten |323| mit schwarzen Umhängen Wache. Ich hielt Alfred zurück. «Wenn die Euer geschwollenes Gesicht sehen», sagte ich, «werden sie
zu Ende bringen, was die anderen begonnen haben.»
«Dann will ich wenigstens in die Kirche gehen.»
«Wollt Ihr beten?»
«Ja.»
«Falls Ihr hier umkommen solltet, wird Iseult sterben.»
«Das war nicht mein Einfall», entgegnete er.
«Ihr seid doch der König, oder?»
«Der Bischof glaubte, dass du dich den Dänen anschließen würdest», sagte er, «und er ist nicht der Einzige.»
«Ich habe unter den Dänen keine Freunde mehr», erwiderte ich. «Meine Freunde waren Eure Geiseln, und deshalb mussten sie sterben.»
«Dann werde ich für ihre heidnischen Seelen beten», sagte er, riss sich von mir los und ging zur Kirche. Vor der Pforte streifte
er aus frommer Gewohnheit die Kapuze vom Kopf. Ich beeilte mich, sie ihm wieder überzuziehen. Er ließ es geschehen, stieß
die Pforte auf und bekreuzigte sich.
Die Kirche wurde als Schlafquartier benutzt. Überall lagen Strohmatten herum, Berge von Kettenhemden und jede Menge Waffen.
Um eine neu errichtete Feuerstelle im Mittelschiff hockten an die zwanzig Männer und Frauen. Sie würfelten und beachteten
uns nicht, bis uns einer zurief, die Pforte zu schließen.
«Wir gehen», flüsterte ich Alfred zu. «Hier könnt Ihr nicht beten.»
Er antwortete nicht und betrachtete reglos die Stelle, wo früher der Altar gestanden hatte und jetzt ein halbes Dutzend Pferde
angebunden war.
|324| «Wir gehen!», zischte ich.
In diesem Moment rief mir eine Stimme einen Gruß zu. Die Stimme war voller Erstaunen, und ich sah, wie einer der Würfelspieler
aufstand und mich anstarrte. Ein Hund kam aus dem Schatten herbeigelaufen, sprang freudig an mir hoch und leckte mir die Hand.
Es war Nihtgenga, und der Mann, der mich erkannt hat, war Ragnar. Graf Ragnar, mein Freund.
Den ich für tot gehalten hatte.
|325| NEUN
Ragnar umarmte mich. Beide hatten wir Tränen in den Augen. Im ersten Moment bekamen wir kein Wort über die Lippen, doch war
ich gefasst genug, einen Blick über die Schulter zu werfen, um mich davon zu überzeugen, dass Alfred in Sicherheit war. Er
kauerte im Schatten eines Wollballens neben dem Eingang und hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen. «Ich habe gedacht,
du wärst tot!», sagte ich zu Ragnar.
«Ich habe gehofft, dass du kommst», sagte er im gleichen Moment, und für eine Weile redeten wir beide aufeinander ein, ohne
dem anderen zuzuhören. Dann kam Brida aus dem hinteren Teil der Kirche auf uns zu. Aus dem Mädchen von damals war eine Frau
geworden. Sie lachte, als sie mich sah, und gab mir einen sehr schicklichen Kuss.
«Uhtred!», sagte sie, und es klang wie ein Streicheln. Wir waren damals, obwohl fast noch Kinder, ein Liebespaar gewesen.
Dann hatte sie, die Sächsin, sich entschieden, an Ragnars Seite bei den Dänen zu leben. Die anderen Frauen in der Kirche waren
behängt mit Silber, Jett, Bernstein und Gold, doch Brida trug keinen Schmuck außer einem elfenbeinernen Kamm, mit dem sie
ihre langen schwarzen Haare hochgesteckt hatte. «Uhtred», wiederholte sie.
«Warum bist du nicht tot?», fragte ich Ragnar. Er war eine Geisel gewesen, und deren Leben war im gleichen Moment dem Tod
geweiht, in dem Guthrum die Grenze überschritten und damit den Frieden gebrochen hatte.
«Wulfhere mochte uns», antwortete Ragnar. Er legte mir den Arm um die Schulter und zog mich nach vorn zur |326| Feuerstelle, in der die Flammen hoch aufloderten. «Das ist
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