Der weiße Reiter
Julfest war,
und ich sagte, ich sei in Defnascir gewesen. Er ging davon aus, dass ich mich dort um die Sicherheit meiner Familie gekümmert
hatte, und er ging auch davon aus, dass ich jetzt nach Cippanhamm gekommen war, um mich ihm anzuschließen. «Du hast Alfred
doch nicht etwa Treue geschworen, oder?», fragte er.
«Wer weiß, wo Alfred ist?», entgegnete ich ausweichend.
«Du hast ihm früher schon einmal Treue geschworen», warf er mir vor.
«Ja, aber nur für ein Jahr, und dieses Jahr ist längst |329| vorbei», sagte ich und das war keine Lüge, doch ich verschwieg, dass ich mich Alfred erneut verpflichtet hatte.
«Also kannst du dich mir anschließen», sagte er freudig. «Du wirst mir Treue schwören, oder?»
Ich tat die Frage leichthin ab, obwohl sie mir Sorge bereitete. «Dir Treue schwören?», erwiderte ich. «Um hier herumzusitzen
und Däumchen zu drehen?»
«Wir könnten ein paar Raubzüge unternehmen», schlug Ragnar vor, «und ein paar Männer bewachen den Sumpf. Dort ist Alfred.
Er hat sich in den Sumpf verkrochen. Aber Svein wird ihn dort bald ausgraben.» Guthrum und seine Männer hatten also noch nicht
erfahren, dass Sveins Flotte verkohlt am Strand lag.
«Warum unternehmt ihr dann nichts?», fragte ich.
«Weil Guthrum sein Heer nicht teilen möchte», antwortete Ragnar. Ich erinnerte mich an Ragnars Großvater und dessen Warnung
an Guthrum, sein Heer niemals mehr aufzuteilen. Genau das hatte Guthrum in der Schlacht auf Æscs Hügel getan und damit den
Westsachsen zum ersten Sieg über die Dänen verholfen. Und erneut hatte er es getan, als er von Werham aufgebrochen war, um
Exanceaster anzugreifen, und der Teil seines Heeres, der als Flotte über die See kommen sollte, war im Sturm untergegangen.
«Ich habe ihm geraten, das Heer in zwölf Gruppen aufzuteilen, um zwölf weitere Städte einzunehmen und zu besetzen. Wir hätten
dann den ganzen Süden von Wessex in der Hand. Aber er will nicht auf mich hören.»
«Den Norden und Osten hält er doch schon besetzt», entgegnete ich wie zu Guthrums Verteidigung.
«Wir sollten auch den Rest besetzen! Stattdessen hoffen wir im Frühling auf Verstärkung. Sie wird ganz bestimmt eintreffen,
denn dieses Land hier ist gutes Land, viel besser als das im Norden.» Er schien die Frage nach |330| meinem Treueschwur vergessen zu haben und erzählte stattdessen von den Vorkommnissen in Northumbrien wie auch davon, dass
unsere gemeinsamen Feinde Kjartan und Sven zu Wohlstand gekommen seien, sich aber aus Angst vor Ragnars Rache aus ihrer Festung
in Dunholm nicht herauswagten. Die beiden hatten seine Schwester entführt und, soweit Ragnar wusste, war sie immer noch in
ihrer Gewalt. Wir, Ragnar und ich, hatten geschworen, diesen Vater und seinen Sohn zu töten. Von der Bebbanburg wusste Ragnar
nichts Neues zu berichten, außer dass mein verräterischer Onkel immer noch dort lebte und die Festung in Besitz hielt. «Wenn
wir mit Wessex fertig sind», versprach Ragnar, «werden wir in den Norden ziehen. Du und ich. Wir tragen unsere Schwerter nach
Dunholm.»
«Unsere Schwerter nach Dunholm», wiederholte ich und hob meinen Bierhumpen.
Ich trank nicht viel und falls doch, verspürte ich kaum eine Wirkung. Ich saß da und dachte nach. Mit einem einzigen Satz
hätte ich Alfreds Dasein beenden können. Ich könnte ihn verraten. Ich könnte ihn vor Guthrum schleifen lassen und zusehen,
wie er starb. Guthrum würde mir sogar verzeihen, dass ich seine Mutter beleidigt hatte, wenn ich ihm Alfred auslieferte. Und
so könnte ich ganz Wessex ausschalten, weil sich ohne Alfred kein Fyrd mehr bilden ließ. Ich könnte bei meinem Freund Ragnar
bleiben, ich könnte noch mehr Armreifen gewinnen, und ich könnte mir einen Namen machen, der überall, wohin die Nordmänner
segelten, ruhmreich klang. Und all das würde mich nur einen einzigen Satz kosten.
Auf diese Art wurde ich an diesem Abend in der königlichen Kirche von Cippanhamm in große Versuchung geführt. Es liegt eine
solche Verlockung in der Verworrenheit. Wären alle Übel dieser Welt hinter eine Tür gesperrt |331| und die Menschen aufgefordert, diese Tür niemals zu öffnen, so würde sie doch geöffnet, denn in der Zerstörung findet sich
auch reine Freude. Als Ragnar wieder einmal laut auflachte und mir so heftig auf die Schulter schlug, dass es schmerzte, spürte
ich, wie mir der Verrat auf der Zunge lag. Das ist Alfred, hätte ich gesagt und mit dem Finger
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