Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
kümmern würden. Dennoch hatte er das Gefühl, sie im Stich zu lassen, wenn er während der Zeit der Geburt auf Reisen war.
Da es in der Siedlung noch keinen Priester und keine Kirche gab, hatte er sich angewöhnt, jeden Sonntagmorgen eine Stelle aus der Bibel zu lesen und mit Gisela zusammen ein paar deutsche Kirchenlieder zu singen. Sie stimmten gerade das letzte an, als plötzlich ein Reiter in vollem Galopp herankam und sein Pferd erst vor der Haustür zum Stehen brachte. Es war Quique.
Walther eilte erschrocken hinaus. »Ist etwas mit den Kühen, oder habt ihr Indianer gesehen?« In seiner Erregung fragte er es auf Deutsch und musste es dann auf Spanisch wiederholen.
»Nein, Señor!«, antwortete der Junge. »Mit den Tieren ist alles in Ordnung. Ich bin gestern nur ein wenig nach Norden geritten, um das Gebiet anzusehen, das für die neuen Siedler bestimmt ist. Da habe ich mehrere Wagen entdeckt und Männer, die am Fluss eine Hütte bauen. Es sind Americanos!«
»Bist du sicher?«, fragte Walther ungläubig. Schließlich war das hier das Land, das Ramón de Gamuzana im Auftrag der Regierung von Mexiko besiedeln sollte, und der würde mit Sicherheit keine Nordamerikaner ins Land holen.
»Ich bin mir ganz sicher, Señor. Die Leute hatten andere Kleidung an als wir und komische Hüte auf. Ich habe vier Männer gezählt, drei Frauen und fünf Kinder. Die Männer hatten alle Gewehre.«
Das Letzte fand Walther nicht verwunderlich. Wer in diesem Land überleben wollte, brauchte gute Waffen, sei es, um Wild zu jagen, oder als Schutz gegen feindliche Indianer. Er fand es jedoch empörend, dass die Menschen sich ohne zu fragen in einem Gebiet einnisteten, das für andere Siedler vorgesehen war. Als Verantwortlicher für den nördlichen Teil der Siedlung war es seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass Recht und Ordnung eingehalten wurden. Einen Augenblick lang überlegte er, die anderen Männer von der
Loire
zu rufen und mit diesen zu den Amerikanern zu reiten. Dann aber schüttelte er den Kopf. Er wollte keinen Krieg gegen diese Leute führen, sondern ihnen nur erklären, dass sie sich anderswo niederlassen sollten. Hier hatten sie nichts verloren.
»Pepe, sattle mein Pferd«, sagte er und nahm seine Büchse in die Hand.
»Glaubst du, dass es gefährlich ist, dorthin zu reiten?«, fragte Gisela ängstlich.
Walther schüttelte den Kopf. »Ich hoffe nicht! Außerdem kommt Quique mit mir. Er soll mir zeigen, wo diese Fremden sind, denn ich will sie nicht suchen müssen.«
Zwar traute er der Großvaterpistole des Jungen nicht besonders, aber so waren sie wenigstens zwei gegen vier.
Während Walther sich fertig machte, strahlte Quique über das ganze Gesicht. Julio und Lope werden Augen machen, wenn ich ihnen das erzähle, dachte er und folgte seinem Herrn nach draußen. Als sie losritten, übernahm er wie selbstverständlich die Führung und schnitt eine Schleife des Flusses ab, um keine Zeit zu verlieren.
Walthers Laune schwankte zwischen einem gewissen Ärger über diese Leute und der Hoffnung, dass sich die Sache zu aller Zufriedenheit lösen ließe. Auf jeden Fall wollte er vorsichtig sein und hielt daher auf einem Hügel an, von dem aus er die Fremden beobachten konnte. Diese hatten sich eine flache Stelle am Ufer ausgesucht und errichteten gerade eine Blockhütte. Nicht weit davon stand ein Wagen, in dessen Nähe mehrere Pferde grasten. Ein Junge hütete zwei Kühe, während die Frauen unter einem Zeltdach kochten.
Die Szenerie wirkte so friedlich, dass es Walther fast leidtat, in sie hineinzuplatzen. Er trieb sein Pferd an und sah im gleichen Augenblick, dass die anderen ihn und Quique bemerkten. Sofort hörten die Männer mit der Arbeit auf und packten ihre Gewehre. Die Frauen und Kinder suchten Deckung hinter der halb fertigen Blockhütte, und der Hütejunge trieb seine Kühe von Walther weg.
Als Walther sich dem Bau näherte, spürte er das Misstrauen, das ihm entgegenschlug. Gute Nachbarschaft, dachte er, sieht anders aus. Er hielt sein Pferd zehn Schritte vor der Hütte an und musterte die Männer. Drei von ihnen waren sehnige Kerle mit vom Wetter gegerbten Gesichtern, die in Baumwollhosen und -hemden steckten und derbe Stiefel trugen. Der vierte Mann hingegen war besser gekleidet. Er hielt auch keine jener langläufigen Büchsen in der Hand wie die anderen, sondern eine neu aussehende Doppelpistole. Er schien der Anführer zu sein, denn er trat einen Schritt vor und sah mit verkniffener Miene zu
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