Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
darauf, dass ihr Rücken mit dem Säugling über dem Wasser blieb. Viel zu schnell kam der Augenblick, an dem auch der Stute nichts anderes mehr übrigblieb, als zu schwimmen. Die Strömung war stärker, als Nizhoni erwartet hatte, und erfasste sie ebenso wie die Schecke.
»Weiter!«, herrschte Nizhoni das Tier an und drückte deren Kopf in die Richtung, in die diese schwimmen sollte. Mit Schrecken sah sie, dass Josef auf der anderen Seite vom Rücken der Stute rutschte. Sie zerrte an der Leine und atmete auf, als die Hände des Jungen wieder auftauchten und sich in die Mähne krallten. Ihr selbst blieb nichts anderes übrig, als neben dem Pferd herzuschwimmen und es nach Westen zu lenken.
Es dauerte schier endlos lange, bis das andere Ufer des Rio Brazos näher kam. Endlich bekam die Schecke Boden unter die Hufe und strebte so rasch voran, dass Nizhoni das Tier kaum halten konnte. Noch während die Stute mit schlagenden Flanken am Ufer stehen blieb, befreite Nizhoni Josef, der die Mähne erst losließ, als sie es ihm befahl. Sie löste den Strick, mit dem er befestigt war, sah nach, ob die Ziege den Flussübergang heil überstanden hatte, und kümmerte sich dann erst um den Säugling. Die Decke, in die das Kind eingewickelt war, hatte sich voll Wasser gesogen, doch dem Kleinen war nichts geschehen.
Erleichtert schlug Nizhoni das Kreuz, so, wie sie es so oft bei Gisela gesehen hatte, und lächelte anschließend Josef zu. »In zwei Tagen haben wir es geschafft!«
»Warum sind wir eigentlich von zu Hause fort?«, fragte er verständnislos. »Wir hätten doch genauso gut dortbleiben können.«
»Es war wegen diesem bösen Santa Ana«, erklärte Nizhoni ihm. »Deswegen ist deine Mama mit dir und mir fortgegangen. Es wäre wahrscheinlich besser gewesen, wir hätten es nicht getan!«
Sie band sich den Säugling wieder auf den Rücken und holte die Flinte und die Pistolen aus der Lederdecke. Die Waffen waren ebenso trocken geblieben wie ihr kleiner Pulvervorrat, und so konnte sie sie schussfertig machen.
10.
D a ihr Ziel nicht mehr fern war und sie ihre Stangenschleife hatte zurücklassen müssen, beschloss Nizhoni zu reiten. Sie musste Josef vor sich setzen und ihre Habseligkeiten so halten, dass sie sie nicht behinderten. So rasch, wie sie gehofft hatte, kamen sie allerdings nicht voran, weil sie auf die Ziege Rücksicht nehmen musste. Es dauerte drei Tage, bis sie in der Ferne die Farmgebäude vor sich auftauchen sah. Sie atmete auf, als sie diese unversehrt fand. Wie es aussah, waren hier keine Mexikaner vorbeigekommen.
Trotzdem blieb sie vorsichtig und suchte sich erst einmal ein Versteck, von dem aus sie die Farm beobachten konnte. Josef wurde unruhig, weil er unbedingt nach Hause wollte, doch Nizhoni ließ sich nicht beirren.
»Ein großer Krieger hat Geduld«, flüsterte sie ihm zu und spähte weiter nach vorn.
Doch dort blieb alles ruhig. Nur ein paar Hühner waren zu sehen, die aus Angst vor wilden Tieren bei der Farm geblieben waren. Ihr Anblick ließ Nizhoni auf Eier hoffen. Wenn auch noch die Vorräte an Mehl und Schmalz unversehrt geblieben waren, die Gisela und sie unter dem Vorratskeller vergraben hatten, konnte sie wirklich ein paar Pfannkuchen für Josef und sich backen.
Verwundert darüber, wohin ihre Gedanken sich verirrten, näherte sie sich nun doch den Gebäuden und sah sich mit der Flinte in der Hand um. Spuren zeigten ihr, dass in letzter Zeit Menschen hier gewesen sein mussten. Doch es war nichts zerstört worden, und so nahm sie an, dass es sich um Julio und die Vaqueros gehandelt hatte. Feinde konnten es nicht gewesen sein, denn die hätten die Farm geplündert und angezündet.
Schließlich trat sie auf das Wohnhaus zu und öffnete die Tür. Als sie einen Schatten neben sich sah, riss sie das Gewehr hoch. Es war jedoch nur Josef, der ihr neugierig gefolgt war.
»Was habe ich dir gesagt?«, wies sie ihn zurecht.
»Ich soll zurückbleiben. Aber ich wollte sehen, ob das Holzpferdchen, das Papa mir geschnitzt hat, noch da ist!« Der Junge äugte sehnsuchtsvoll in das dämmrige Innere des Hauses. An Nizhoni vorbei in das Gebäude einzudringen, wagte er nicht.
»Weg von der Tür!«, wies Nizhoni ihn an und huschte zum ersten Fenster. Dort lehnte sie die Flinte gegen die Wand und zog die Doppelpistole, bevor sie den Fensterladen aufstieß. Eine Lichtflut strömte ins Haus und zwang sie, einen Herzschlag lang die Augen zu schließen. Als sie diese wieder öffnete, atmete sie auf. Im
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