Der weiße Stern: Roman (Knaur TB) (German Edition)
jungen Renitz erzählen müssen. War es dessen Kind, das sie nun umbringen wollte? Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf, während ihr gemarterter Körper sich unter den Wehen aufbäumte.
Bilder aus der Vergangenheit gesellten sich dazu, und sie glaubte, ihre Mutter zu hören. Diese rief ihr zu, dies sei die Strafe dafür, dass sie bei ihrer Heirat mit Walther nach außen hin das katholische Bekenntnis verraten habe. Dann sah sie sich als Kind an der Hand der Mutter durch die weite Schneelandschaft Russlands stapfen, halb wahnsinnig vor Hunger, Erschöpfung und der Angst, die Kosaken könnten auch den Rest des zusammenschmelzenden bayrischen Regiments auslöschen.
Eine Wehe, die schlimmer war als alle anderen, riss Gisela wieder in die Gegenwart zurück. Ihr Körper spannte sich noch einmal an, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Unterleib entzweigerissen.
Augenblicke später klang Rositas jubelnde Stimme auf. »Sie hat es geschafft! Es ist ein Junge, ein prachtvoller Junge!«
Enttäuschung erfasste Gisela trotz ihrer Mattigkeit. Sie hatte sich so sehr eine Tochter gewünscht, um Walther danach den Sohn gebären zu können, der auch wirklich der seine war. Trotzdem drehte sie den Kopf, um das Kind, das Rosita ihr stolz präsentierte, zu betrachten.
Sie hatte gehofft, es könnte unzweifelhaft Walthers Züge besitzen, doch mit den wenigen dunklen Haaren auf dem Kopf sah es eher ihr ähnlich. Doch wenigstens erinnerte auch nichts an Diebold von Renitz. Zudem war er recht groß, und auch das erleichterte sie. Immerhin fehlten noch fast drei Wochen zu den neun Monaten, die seit ihrer Vergewaltigung durch den Grafensohn vergangen waren. Als Diebolds Sohn müsste er eigentlich kleiner sein, dachte sie und rang sich ein Lächeln ab.
»Er ist wunderschön!«
»Das ist er!«, stimmte Rosita ihr zu. »Es war sehr anstrengend für dich, ihn zur Welt zu bringen. Daher solltest du etwas essen. Ich habe eine Fleischbrühe für dich vorbereitet. Die gibt dir die Kraft, die du brauchst, damit dieser Prachtbursche nicht verhungert.«
Gemeinsam mit Arlette nabelte sie das Kind ab und wusch es, während Gertrude etwas Brühe in eine Schüssel gab und sie Gisela reichte. »Hier. Und jetzt sollten wir Pepe zu Walther schicken, damit dieser erfährt, dass er Vater eines Sohnes geworden ist. Wie soll er denn heißen?«
»Wir haben uns noch nicht geeinigt. Entweder taufen wir ihn Waldemar nach Walthers Vater oder Josef nach dem meinen«, antwortete Gisela zwischen zwei Löffeln Fleischbrühe. Sie hatte tatsächlich Hunger und war froh, dass Rosita daran gedacht hatte, ihr etwas zu kochen.
Unterdessen öffnete Arlette die Tür und sah Pepe auf dem Vorplatz stehen.
»Was ist geschehen? Man hört gar nichts mehr!«, fragte er angespannt.
In dem Augenblick tat das Kind seinen ersten Schrei. Pepes Gesicht wurde mit einem Schlag weich, und seine Augen leuchteten. »Das Kind ist da! Das muss ich Señor Waltero sofort sagen.«
Er wollte schon losrennen, hielt aber nach zwei Schritten inne und sah Arlette an. »Wie geht es der Señora?«
»Du kannst Monsieur Walther sagen, dass seine Frau es überstanden hat. Sie ist etwas schwach, aber wir sorgen schon dafür, dass sie wieder auf die Beine kommt. Übrigens: Es ist ein Junge!«
Der Knecht kniete nieder und schlug das Kreuz. »Der Heiligen Jungfrau von Guadalupe sei Dank! Diese Nachricht wird Señor Waltero am liebsten hören.«
Mit diesen Worten rannte er los.
Arlette sah ihm kurz nach und kehrte dann kopfschüttelnd ins Haus zurück. »Männer, sage ich da nur! Wenn die nur wüssten, wie viel Mühe es macht, ihresgleichen zur Welt zu bringen.«
Dann trat sie neben Gisela und fasste nach deren Hand. »Jetzt bist du wohl glücklich, was?«
»Vor allem bin ich erleichtert, dass es vorbei ist und das Kind lebt«, flüsterte Gisela mit bleichen Lippen.
»Sobald die Nachgeburt ausgestoßen ist, solltest du ein wenig schlafen. Lange Zeit wirst du dafür aber nicht haben. Lass mal sehen, ob schon Milch kommt.«
Rosita fasste nach Giselas Brüsten und drückte kurz an den Brustwarzen, doch es tat sich nichts.
»Das wird schon noch«, meinte sie dann und begann aufzuräumen.
Gertrude und Arlette halfen ihr dabei. Kurz darauf konnten sie auch die Nachgeburt entfernen. Nach einem letzten Blick auf ihren Sohn schloss Gisela die Augen und spürte, wie der Schlaf sie umgehend erfasste. Die drei anderen Frauen lächelten sich erleichtert zu. Das Schwerste, so sagten sie sich, war
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