Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Schwestern?«
Ben runzelte die Stirn, während er sie die Treppe hinauftrug. Er nahm an, daß sie viel zu erschöpft war, um zu bemerken, daß sie Lily und Tess zum ersten Mal als ihre Schwestern bezeichnet hatte. »Tess ist vor einer Stunde nach oben gegangen, und Lily ist bei Adam. Ham wird heute schon allein fertig. Geh schlafen, Will. In diesem Zustand kannst du doch nichts tun.«
»Sie haben mir andauernd Fragen gestellt.« Willa hatte nicht mehr die Kraft, um zu protestieren, als er sie auf das Bett sinken ließ. »Jeder hat mich mit Fragen bombardiert. Und die Polizisten haben meine Gäste in die Bibliothek zitiert, einen nach dem anderen.«
Wie ein weidwundes Tier blickte sie ihn an, sah ihm in die Augen, die jetzt kaltgrün funkelten. »Ich habe sie noch nie zuvor gesehen, Ben.«
»Ich weiß.« Ben streifte ihr die Schuhe ab und drehte sie nach kurzem Widerstand auf den Bauch, um den Reißverschluß des Kleides zu öffnen. »Die Polizei wird alle Vermißtenanzeigen der letzten Tage durchgehen und ihre Fingerabdrücke überprüfen.«
»So gut wie gar kein Blut«, murmelte sie und hielt geduldig wie ein kleines Kind still, als er ihr das Kleid auszog.
»Nicht wie bei Pickles. Es kam mir so unwirklich vor, so, als sei sie gar kein menschliches Wesen. Glaubst du, der Täter kannte sie? Glaubst du, er kannte sie und hat sie trotzdem so zugerichtet?«
»Ich weiß es nicht.« Liebevoll hüllte er sie in die Decke. »Denk jetzt nicht mehr daran.« Auf der Bettkante sitzend, streichelte er sanft ihr Haar. »Vergiß das alles und schlaf.«
»Er gibt mir die Schuld.«
»Wer gibt dir die Schuld?«
»Pa. Für alles, was schiefging, hat er immer mich verantwortlich gemacht.« Sie seufzte tief. »Und das wird er auch weiterhin tun.«
Ben strich ihr kurz über die Wange. »Aber er war immer im Unrecht.«
Als er aufstand und sich umdrehte, sah er Nate in der Tür stehen.
»Schläft sie?« fragte dieser.
»Im Moment ja.« Ben legte das Kleid über einen Stuhl. »Aber wie ich Will kenne, wird sie nicht lange schlafen.«
»Ich habe Tess dazu gebracht, eine Schlaftablette zu nehmen.« Nate lächelte gequält. »Viel Überredungskunst hat es mich allerdings nicht gekostet.« Er deutete auf die Halle. Gemeinsam gingen sie zu Willas Büro und schlossen die Tür hinter sich. »Es ist zwar noch reichlich früh«, meinte Nate dann, »aber ich trinke jetzt einen Whiskey.«
»Und ich leiste dir dabei Gesellschaft. Drei Fingerbreit bitte«, fügte er hinzu, als Nate die Drinks einschenkte. »Ich glaube nicht, daß sie hier aus der Gegend stammt.«
»Nicht?« Nate war derselben Ansicht, wollte aber Bens Meinung hören. »Warum denn nicht?«
»Na ja.« Ben nippte an seinem Glas und hielt kurz den Atem an, weil die scharfe Flüssigkeit in seiner Kehle brannte. »Ihre Finger- und Fußnägel waren knallrot lackiert, sie hatte auf dem Po und auf der Schulter Tätowierungen und trug in jedem Ohr drei Ohrringe. Für mich riecht das nach Großstadt.«
»Sie sah aus wie höchstens sechzehn. Für mich riecht das nach einer Ausreißerin.« Nate trank einen großen Schluck.
»Armes Ding. Sie könnte per Anhalter unterwegs gewesen sein, oder sie ist in Billings oder Ennis auf den Strich gegangen. Wie dem auch sei, derjenige, der sie aufgegabelt hat, hat sie eine Weile gefangengehalten.«
Bens Interesse war geweckt. »So?«
»Ich hab’ den Cops ein paar Einzelheiten aus der Nase gezogen. Sie hatte sowohl an den Hand- als auch an den Fußgelenken Hautabschürfungen, das heißt, daß sie gefesselt worden ist. Die Cops können noch nichts Genaues sagen, ehe nicht alle Tests ausgewertet worden sind. Doch sie gehen davon aus, daß das Mädchen vergewaltigt wurde und daß sie schon mindestens vierundzwanzig Stunden tot war, ehe sie hierhergebracht wurde. Das spricht auch dafür, daß der Täter sie irgendwo festgehalten hatte.«
Ben tigerte rastlos im Raum auf und ab. Hilflosigkeit und Ekel spiegelten sich auf seinem Gesicht wider. »Warum gerade hier? Warum sollte sie ausgerechnet hier gefunden werden?«
»Jemand hat es auf die Mercy Ranch abgesehen.«
»Oder auf einen der Bewohner der Ranch«, gab Ben zu bedenken und schloß aus dem Blick, den Nate ihm zuwarf, daß dieser ähnlich dachte. »All diese Vorfälle haben sich erst nach dem Tod Jack Mercys ereignet – und nachdem Tess und Lily hergekommen sind. Vielleicht sollten wir uns etwas eingehender mit den beiden beschäftigen. Möglich, daß es ihnen gilt.«
»Ich werde mit
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