Der weite Himmel: Roman (German Edition)
treiben. Er hatte sich vorgenommen, sie Punkt Mitternacht fest in den Armen zu halten. Anfangs gestand er ihr einen Sicherheitsabstand zu, doch als der Countdown begann, zog er sie an sich.
»Fang nicht schon wieder damit an«, warnte sie.
»Nur noch eine Minute«, meinte er leichthin. »Ich bezeichne
die letzte Minute eines Jahres immer als Unzeit.« Als sich ihre Brauen zusammenzogen, wußte er, daß er ihre Aufmerksamkeit besaß. »Sie gehört weder zur Vergangenheit noch zur Zukunft, sie gehört einfach gar nicht zur Realität. Wenn wir alleine wären, könnte ich während dieser sechzig Sekunden mit dir tun, was ich wollte, weil es unwirklich wäre. Aber ich ziehe die Wirklichkeit vor. Leg die Arme um mich. Es zählt doch nicht. In diesem Augenblick noch nicht.«
Außer seiner Stimme existierte nichts mehr im Raum für sie, nicht die Geräusche, nicht das Gelächter. Wie in einem Traum gefangen, hob sie die Arme und legte sie um seinen Hals.
»Sag mir, daß du mich willst«, flüsterte er. »Es zählt nicht. Noch nicht.«
»Ich will dich. Aber ich …«
»Kein Aber. Es ist ohne Bedeutung.« Seine Hand glitt über ihren bloßen Rücken, dann durch ihr Haar. »Küß mich. Noch befinden wir uns außerhalb der Wirklichkeit, noch ist es nicht real. Küß mich, Willa. Nur ein einziges Mal.«
Willa ergab sich dem Zauber des Augenblicks. Mit weit geöffneten Augen sah sie ihn an, als sie mit ihren Lippen seine berührte, die sie so warm, einladend und unerwartet sanft empfingen, daß sie Zeit und Raum vergaß.
Nur verschwommen nahm sie die Jubelrufe wahr. In ihrer Eile, Neujahrswünsche auszutauschen, drängelten sich die Leute unsanft an ihr vorbei, und während die letzten Sekunden des alten Jahres in die ersten des neuen übergingen, durchzuckte ein Funke der Erkenntnis Willas Herz.
»Es ist wirklich.« Ein anklagender Unterton schwang in ihrer Stimme mit, und sie machte sich abrupt los. In ihren Augen flackerte unterdrückte Furcht auf. »Jetzt ist es wirklich.«
»Ja.« Er nahm ihr den Wind aus den Segeln, indem er ihre Hand an die Lippen führte. »Jetzt beginnt es.« Ben legte ihr einen Arm um die Taille und hielt sie eng an sich gedrückt. »Sieh mal da, Liebling.« Sacht drehte er sie in eine bestimmte Richtung. »Ist das nicht ein schönes Bild?«
Trotz ihrer eigenen Verwirrung mußte sie ihm zustimmen.
Adam hatte Lilys Gesicht in beide Hände genommen, und Lilys Finger streichelten seine Handgelenke.
Wie verzückt sie sich in die Augen sahen, dachte sie. Lilys Lippen bebten leicht, als sie sacht wie ein Hauch die von Adam berührten. So blieben sie stehen, in der Andeutung eines Kusses erstarrt.
»Er liebt sie«, murmelte Willa aufgewühlt. Zu viele Emotionen wallten gleichzeitig in ihr hoch, so daß sie beruhigend eine Hand gegen ihren Magen pressen mußte. So viel Unbegreifliches geschah mit ihr und um sie herum. »Was geht hier nur vor. Ich wünschte, ich könnte es verstehen. Nichts ist mehr wie früher, nichts ist mehr so unkompliziert, wie es einmal war.«
»Die Menschen können einander glücklich machen. So einfach ist das.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »O nein. Kannst du es denn nicht spüren? Da ist etwas …« Sie erschauerte, da sie das drohende Unheil herannahen fühlte; kalt, böse und unaufhaltsam. »Ben, irgend etwas ist hier …«
In diesem Moment setzten die Schreie ein.
Kapitel 6
Viel Blut war nicht geflossen. Die Polizei kam später zu dem Schluß, daß sie an einem anderen Ort getötet und dann zur Ranch geschafft worden war. Niemand konnte sie identifizieren, obwohl ihr Gesicht bis auf eine Wunde unter dem rechten Auge weitgehend unversehrt geblieben war.
Ihr Kopfhaar fehlte.
Die Haut schimmerte bläulich. Davon hatte sich Willa selbst überzeugen können, als sie aus dem Haus gestürmt war und vor der Tür den jungen Billy vorgefunden hatte, der verzweifelt versuchte, Mary Anne Walker zu beruhigen. Die beiden waren offenbar regelrecht über den Leichnam gestolpert. Die Frau war nackt, und ihr Körper war durch viele Schnittverletzungen entstellt, die an ein Zickzackmuster erinnerten.
Blut war kaum zu sehen, nur einige bereits getrocknete Flecken glänzten auf der bläulich verfärbten, fahlen Haut.
Mary Anne hatte sich direkt auf der Vordertreppe übergeben müssen, und Billy war rasch ihrem Beispiel gefolgt. Er hatte das Bier, das er sich im Jeep einverleibt hatte, während er damit beschäftigt war, Mary Anne unter den Rock zu greifen, wieder von sich
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