Der weite Himmel: Roman (German Edition)
ruhig, er zog ein Tuch aus der Tasche und tupfte Tess sacht das Blut vom Mundwinkel. »Du hast ihre Ehre und ihren Stolz angegriffen. Sie kann alles vertragen, nur das nicht.«
»Autsch!« Tess schloß einen Moment die Augen, dann betastete sie behutsam die Beule an ihrer Schläfe. »Der Sieg kommt mich ganz schön teuer zu stehen. Das war die erste echte Schlägerei seit der Zeit, als ich in der neunten Klasse war und Annmarie Bristol mich fette Kuh genannt hat. Ich hab’ sie nach Strich und Faden verprügelt und dann angefangen, Diät zu halten und Fitneßtraining zu machen.«
»Das hat sich gelohnt.« Ben bückte sich und hob ihren zerbeulten Hut auf. »Rundherum.«
»Ja.« Tess stülpte sich den Hut auf ihre nassen, schmutzigen Haare. »Ich bin verdammt gut in Form. Hätte nie gedacht, daß sie so schwer unterzukriegen ist.«
»Will ist zwar ein Leichtgewicht, aber zäh.«
»Wem sagst du das?« murmelte Tess und fuhr sich mit der Zunge über die geschwollenen Lippen. »Sie braucht dringend Tapetenwechsel, mehr noch als Lily und ich.«
»Ich glaube, da hast du vollkommen recht.«
»Ich weiß nicht, wann sie eigentlich schläft. Jeden Morgen ist sie vor allen anderen auf den Beinen, obwohl sie bis in die Puppen im Büro hockt oder sich hier draußen aufhält.« Dann zuckte sie die Achseln. »Was geht mich das an?«
»Eine ganze Menge, und das weißt du.«
»Möglich.« Tess musterte ihn forschend. »Ich kann dir sagen,
was sie sonst noch braucht. Eine ausgiebige Liebesnacht, damit sie auf andere Gedanken kommt. Worauf, zum Teufel, wartest du eigentlich noch?«
Ben legte keinen großen Wert darauf, dieses heikle Thema mit ihr zur erörtern, doch sein Instinkt riet ihm, sich ihr anzuvertrauen. Unbehaglich schielte er in Richtung Viehstall, dann nahm er Tess am Arm und zog sie ein Stück weiter weg.
»Weißt du, Willa … sie hat noch nie … sie hat noch nie …«, stammelte er verlegen und brach dann hilflos ab.
»Noch nie was?« Das ungeduldige Glitzern in seinen Augen brachte sie auf die richtige Spur. »Sie ist doch nicht etwa noch Jungfrau? Heiliger Strohsack!« Sie pfiff leise durch die Zähne und ordnete ihre durcheinanderwirbelnden Gedanken. »Nun, das wirft natürlich ein anderes Licht auf die Angelegenheit, nicht wahr?«
Obwohl ihre Lippe schmerzhaft pochte, drückte sie ihm einen zarten Kuß auf die Wange. »Du bist ein rücksichtsvoller und geduldiger Mann, Ben McKinnon. Ich finde dich großartig.«
»Hmm.« Unsicher scharrte er mit den Füßen. »Ich fürchte, es gab nie jemanden, der mit ihr über diese Sache hätte sprechen können, der sie – nun ja – aufgeklärt hätte.«
Tess verstand den Wink mit dem Zaunpfahl sofort, doch sie schüttelte abwehrend den Kopf. »O nein, kommt nicht in Frage. Nicht mit mir.«
»Ich dachte ja nur, daß du eventuell … schließlich bist du doch ihre Schwester.«
»Richtig, Will und ich, wir lieben uns heiß und innig.« Sarkastisch kreuzte Tess zwei Finger. »Wie glaubst du wohl, wird sie reagieren, wenn ich sie in Sexualkunde für Anfänger einführe?«
»Wo du recht hast, hast du recht.«
Du armer, frustrierter Kerl, dachte Tess und tätschelte ihm liebevoll die Wange. »Nicht lockerlassen, Großer. Vielleicht fällt mir ja doch noch etwas ein. Die nächsten zwei Tage werde ich mich jedenfalls erst einmal erholen.« Eine Hand auf ihr lädiertes Hinterteil gepreßt, humpelte Tess auf das Haus zu.
»Herrje!« war alles, was Lily seit ihrer Ankunft im Mountain King Spa and Resort von sich gegeben hatte. Noch nie zuvor hatte sie etwas Vergleichbares gesehen. Die Anlage umfaßte ein riesiges Gebiet. Kiesbestreute Pfade führten an schneebedeckten immergrünen Stauden vorbei zu den verschiedenen Bungalows und zu beheizten Schwimmbädern, von denen feine Dampfschwaden aufstiegen. Das große Hauptgebäude bestand nur aus Holz und Glas.
Lily umklammerte krampfhaft den Riemen ihrer Handtasche, als sie eincheckten. Sie bestaunte ungläubig das gediegen eingerichtete Foyer mit dem Zwillingskamin, der holzgetäfelten Decke und den üppigen Grünpflanzen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als sie an den Preis für ihren Aufenthalt dachte. Mit Sicherheit würde der Wochenendurlaub an einem so herrlichen luxuriösen Ort ein Vermögen verschlingen.
Doch Tess begrüßte den Empfangschef mit einem freundlichen Lächeln, nannte ihn beim Namen und erzählte ihm, wie sehr sie und ihr Begleiter einen früheren Aufenthalt genossen hatten.
Der Mann
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