Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Heute. »Kannst du reiten?«
»Worauf denn?«
Willa gab einen verächtlichen Ton von sich und trank dann einen Schluck. »Das dachte ich mir. Vermutlich kannst du noch nicht einmal einen Hahn von einer Henne unterscheiden.«
»Ach, mit Piepmätzen kenne ich mich aus«, meinte Tess gedehnt und stellte zu ihrer Überraschung fest, daß Willa grinste.
»Jeder, der hier lebt, muß auch arbeiten. Das ist eine Tatsache. Ich hab’ genug damit zu tun, mich um die Männer und das Vieh zu kümmern, da kann ich keinen Klotz am Bein wie
dich brauchen. Also wirst du deine Anweisungen von Bess entgegennehmen.«
»Du glaubst doch nicht im Ernst, daß ich mir von einer Haushälterin Befehle erteilen lasse.«
Willas Augen glitzerten hart wie Stahl. »Du befolgst die Anordnungen der Frau, die dir dein Essen zubereitet, deine Wäsche wäscht und das Haus, in dem du leben wirst, in Ordnung hält. Und das erste Mal, an dem du sie wie einen Dienstboten behandelst, wird auch das letzte Mal sein, das verspreche ich dir. Du bist nicht mehr in L. A., Miß Hollywood. Hier draußen muß jeder mit anpacken.«
»Zufällig muß ich auch noch an meine Karriere denken.«
»Ach ja, Drehbücher schreiben.« Möglich, daß es noch sinnlosere Beschäftigungen auf der Welt gab, aber Willa fiel keine ein. »Nun, ein Tag hat vierundzwanzig Stunden, das wirst du sehr bald merken.« Erschöpft schlenderte sie zum Fenster hinter dem Schreibtisch. »Was, zum Teufel, soll ich nur mit dem verschüchterten Vögelchen anfangen?«
»Sie erinnert mich eher an eine zertretene Blume.«
Verwundert über das Mitgefühl in Tess’ Stimme, starrte Willa sie an, dann zuckte sie die Achseln. »Hat sie dir irgend etwas über die blauen Flecken in ihrem Gesicht erzählt?«
»Ich hab’ mit ihr genauso wenig gesprochen wie du.« Tess unterdrückte ein beklemmendes Schuldgefühl. Halt dich da raus, mahnte sie sich streng. »Das hier ist nicht unbedingt ein Familientreffen.«
»Sie wird es Adam sagen. Früher oder später vertraut jeder Adam an, was ihn bedrückt. Lassen wir die kleine Lily vorerst in seiner Obhut.«
»Gut. Ich fliege morgen früh nach L. A. zurück. Zum Pakken.«
»Einer der Männer fährt dich dann zum Flughafen.«
Tess war entlassen. Willa drehte sich wieder zum Fenster. »Eins noch: Tu dir selbst einen Gefallen, Miß Hollywood, und kauf dir lange Unterwäsche. Du wirst sie brauchen.«
Bei Einbruch der Dämmerung ritt Willa aus. Die Sonne versank gerade hinter den westlichen Gipfeln und färbte den
Himmel tiefrot. Sie mußte nachdenken, mußte ihre innere Ruhe wiederfinden. Ihre Appaloosastute tänzelte unter ihr und zerrte an den Zügeln.
»Okay, Moon, reagieren wir uns ab.« Willa lenkte die Stute in eine andere Richtung und ließ sie laufen. Sie galoppierten los, fort von den Lichtern, den Gebäuden und den Geräuschen der Ranch, hinaus auf das offene Land, durch das sich der Fluß schlängelte.
Sie folgten dem Ufer und hielten sich östlich. Die ersten Sterne erschienen am Himmel, und außer dem Rauschen des Wassers und dem Trommeln der Hufe war kein Laut zu hören. Das Vieh graste friedlich vor sich hin, darüber kreisten nachtaktive Greifvögel. Von einer Anhöhe aus konnte Willa Meile um Meile voller Silhouetten und Schatten erkennen; hoch aufragende Bäume, im Wind wehendes Weidegras, die endlose Linie von Zäunen. Und noch etwas weiter entfernt schimmerten schwach die Lichter einer benachbarten Ranch.
McKinnon-Land.
Die Stute warf den Kopf zurück und schnaubte, als Willa die Zügel anzog. »Wir haben uns beide noch nicht ausgetobt, was, Moon?«
Nein, der Ärger brodelte immer noch in ihrem Inneren, und ihre Stute vibrierte vor ungenutzter Energie. Willa wünschte, sie könnte diesen nagenden, bitteren Zorn und den darunter verborgenen Schmerz ein für allemal verdrängen. Derartige Gefühle würden ihr das vor ihr liegende Jahr auch nicht eben erleichtern. Sie würden ihr auch nicht über die nächste Stunde hinweghelfen, dachte sie und kniff die Augen fest zusammen.
Sie würde keine einzige Träne vergießen, schwor sie sich. Nicht um Jack Mercy.
Willa atmete tief durch und sog den Geruch nach Gras und Pferden, den Geruch der Nacht in sich auf. Was sie jetzt brauchte, war kühle, berechnende Selbstbeherrschung. Sie würde schon einen Weg finden, um mit den beiden unwillkommenen Schwestern fertig zu werden und sie auf der Ranch zu halten. Sie würde dafür sorgen, daß die beiden bei der Stange blieben, koste es, was es
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