Der weite Himmel: Roman (German Edition)
jemals zustoßen könnte.«
Seufzend lenkte sie ihr Pferd über ein unebenes Wegstück, wo der Schnee zum Teil geschmolzen war und dunkle Erde freigab. Feine Nebelschwaden teilten sich vor ihr.
»Als ich dann Pickles fand und sah, was mit ihm geschehen war, glaubte ich, nun das Allerschlimmste erlebt zu haben. Aber ich habe mich erneut geirrt. Und nun habe ich Angst, daß es noch Steigerungen geben kann.«
»Ich werde nie zulassen, daß dir etwas geschieht, das kannst du mir glauben.«
Die Lichter, die jetzt schwach in der Dunkelheit aufleuchteten, gehörten zu Mercy. »Du hast dich heute wie ein verdammter Narr verhalten, Ben. Alleine auf Spurensuche zu gehen! Ich habe dir gesagt, daß ich für Helden nichts übrig habe, aber von Narren halte ich noch viel weniger.« Mit diesen Worten trieb sie Moon an und ritt auf die Lichter zu.
»Jetzt hat sie’s mir aber gegeben«, murmelte Ben Adam zu.
»Sie hat recht.« Adam neigte den Kopf, als Ben die Stirn runzelte. »Ich war dir heute keine große Hilfe, und sie war zu sehr mit mir beschäftigt, um irgendwas anderes tun zu können. Auf eigene Faust die Gegend zu erkunden gehörte nicht zu deinen besten Ideen.«
»Du an meiner Stelle hättest dasselbe getan.«
»Wir sprechen jetzt nicht von mir. Sie hat geweint.«
Unbehaglich rutschte Ben im Sattel nach vorne und blickte zu Willa, die ein paar Längen vor ihnen ritt. »O verdammt.«
»Ich hab’ ihr versprochen, kein Wort darüber zu verlieren,
und das hätte ich auch nicht getan, wenn die Tränen mir gegolten hätten. Aber sie hat sie deinetwegen vergossen. Sie wollte dir hinterherreiten.«
»Aber das wäre doch reiner …«
»… Wahnsinn gewesen. Ich hätte natürlich versucht, sie zurückzuhalten, doch ich bezweifle, daß es mir gelungen wäre. Vielleicht denkst du in Zukunft daran, Ben.«
Adam versuchte, seine schmerzende Schulter zu bewegen. »Denn es wird ein weiteres Mal geben. Es ist noch nicht vorbei.«
»Nein, es ist noch nicht vorbei.« Und Ben schloß langsam zu Willa auf.
Das verdammte Zielfernrohr war nicht richtig justiert gewesen. Hatte ihn ein Vermögen gekostet, und dann ließ es sich nicht richtig einstellen.
Das wiederholte Jesse immer wieder, während er jeden Moment des Überfalls im Geiste noch einmal aufleben ließ. Es hatte am Gewehr gelegen, am Zielfernrohr, am Wind. Es war nicht sein Fehler gewesen, er hatte nicht schlecht gezielt, ihm war kein Vorwurf zu machen.
Nur gottverfluchtes Pech, weiter nichts.
Er hatte das Bild immer noch vor sich, sah, wie sich das Pferd dieses ehebrecherischen Halbbluts aufbäumte. Einen Moment, einen wunderbaren Moment lang glaubte er, sein Ziel getroffen zu haben. Doch dann stellte sich heraus, daß das Fernrohr versagt hatte.
Dazu kam, daß er aus einem Impuls heraus gehandelt hatte, statt sich einen vernünftigen Plan auszudenken. Hätte er seinen Hinterhalt gründlich durchdacht, dann wäre Wolfchild jetzt nicht mehr am Leben – und McKinnon vielleicht auch nicht mehr. Und vielleicht hätte er sich dann etwas eingehender mit Lilys Halbschwester befaßt, nur so zum Spaß. Jesse stieß eine Rauchwolke aus, starrte in die Dunkelheit. Er fluchte leise vor sich hin. Er würde eine zweite Chance bekommen; früher oder später würde sich erneut eine Gelegenheit ergeben, Rache zu nehmen. Dafür würde er sorgen.
Und dann konnte Lily ihr blaues Wunder erleben.
Eine Woche lang erwachte Willa jede Nacht aus dem Würgegriff eines Alptraums, schweißgebadet und mit einem erstickten Aufschrei in der Kehle. Der Verlauf des Traumes blieb immer gleich: Sie lag nackt, an Händen und Füßen gefesselt, auf einem Lager, kämpfte Nacht für Nacht darum, sich zu befreien, und fühlte, wie das Seil in ihre Haut einschnitt, wenn sie sich wimmernd in den Fesseln wand. Und sie roch ihr eigenes Blut, das an ihren bloßen Armen herunterrann.
Jedesmal sah sie kurz vor dem Erwachen das Aufblitzen eines Messers, eine schimmernde Klinge, die sich auf sie herabsenkte.
Jeden Morgen bemühte sie sich, diesen Traum aus ihren Gedanken zu verbannen. Aber sie wußte, daß er unweigerlich in der nächsten Nacht zurückkehren würde.
Eigentlich hätten die Vorboten des Frühlings, jene schüchternen Anzeichen einer neuen Jahreszeit, sie entzücken müssen. Die Krokusse, die ihre Mutter noch gesetzt hatte, leuchteten in so hoffnungsfrohen Farben, die immer dünner werdende Schneedecke gab große Flächen braunen Untergrundes frei, die Kälber wuchsen und gediehen, und
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