Der weite Himmel: Roman (German Edition)
die Fohlen tobten fröhlich auf der Weide herum.
Es nahte die Zeit, die Erde umzupflügen, mit der Aussaat zu beginnen und die Pflanzen heranreifen zu sehen, die Zeit, in der Pappeln, Espen und Lärchen ein frisches grünes Blätterkleid anlegen würden. Bald würden die Lupinen zu blühen beginnen, und sogar auf den Bergwiesen würden feuerrote Kastillea und sonnengelbe Butterblumen bunte Farbtupfer bilden. Die Tage würden endlich länger und heller werden, und das Weiß der Berge würde nach und nach in Silber übergehen.
Es war unvermeidlich, daß der Winter wenigstens einmal noch zurückschlug, doch den Frühjahrsschneefällen fehlte es bereits an Kraft. Die strahlende Sonne ließ die Temperaturen erheblich ansteigen, und so war man versucht zu vergessen, wie rasch das Wetter wieder umschlagen konnte. Jede Stunde eines neuen Tages wurde ausgekostet
Von ihrem Bürofenster aus sah Willa Lily vorübergehen,
was bedeutete, daß auch Adam nicht weit war. Seit der Nacht, als sie aus den Bergen zurückgekehrt waren, wich Lily kaum mehr von seiner Seite. Häufig hatte Willa seither beobachtet, wie sie Adam liebevoll über den verletzten Arm strich oder die Schlinge zurechtrückte, in der er ihn trug.
Seine Wunde heilte. Nein, dachte Willa, eigentlich war es so, daß Adam und Lily sich gegenseitig heilten.
Wie würde sie sich wohl fühlen, wenn sie einen Partner hätte, der ihr dermaßen ergeben war, für den nichts auf der Welt existierte außer ihrer Person? Und wenn sie diesem Partner eine ebenso große Liebe entgegenbringen würde?
Vermutlich würde ihr dieses Übermaß an Emotionen ein wenig Angst einjagen. Aber trotz allem wäre ihr die Erfahrung alle Furcht und alle nagenden Zweifel wert. Einmal davongetragen zu werden von purem Verlangen, sich ganz seinen Gefühlen hinzugeben, davon begann sie in letzter Zeit immer häufiger zu träumen. Aber was noch viel mehr zählte, abgesehen von der Leidenschaft des Augenblicks, das war das Versprechen, füreinander einzustehen. Sie spürte es bei Adam und Lily, wenn sie einander ansahen.
Jedes heimliche kleine Lächeln, jedes verstohlene Zeichen gehörte so voll und ganz ihnen, daß jeder Dritte automatisch davon ausgeschlossen blieb. Wie aufregend es sein mußte, grübelte sie, und wie herrlich beruhigend, einen Menschen zu haben, der immer für sie da war, egal was kommen mochte. Einen Menschen, für den sie stets an erster Stelle stand.
Dummes Zeug, schalt sie sich und wandte sich vom Fenster ab. Hier saß sie und hing Tagträumen nach, dabei gab es noch so viel zu tun. Außerdem würde sie nie zu der Sorte Frauen gehören, die einem Mann mehr bedeuteten als alles andere. Sie hatte ja noch nicht einmal für ihren eigenen Vater an erster Stelle gestanden.
Wenigstens sich selbst konnte sie diese Tatsache nun eingestehen, hier in seinem Büro, in dem noch immer so viel von seiner Persönlichkeit gefangen war. Es schien, als hätten die Möbelstücke und Teppiche die Ausstrahlung des Jack Mercy regelrecht absorbiert. Nein, sie hatte für ihren Vater nie an erster
Stelle gestanden, ihm nie mehr bedeutet als irgend jemand sonst auf der Welt.
Was war sie dann für ihn gewesen? Bewußt nahm Willa in seinem Sessel Platz und stützte ihre Hand auf die glatte lederbezogene Lehne, dorthin, wo seine Hand unzählige Male gelegen hatte. Was war sie für ihn gewesen? Ein Ersatz; ein Ersatz für den Sohn, den er nie bekommen hatte. Und wenn sie an Jack Mercys Maßstab dachte, dann mußte sie ein kümmerlicher Ersatz gewesen sein.
Vielleicht noch nicht einmal das, erkannte sie und ballte die Fäuste. Eine Trophäe war sie gewesen, eine von dreien, die ihm alle so gleichgültig gewesen waren, daß er sich noch nicht einmal die Mühe gemacht hatte, eine Erinnerung an sie aufzubewahren. Sie und ihre Halbschwestern waren Trophäen gewesen, die bedenkenlos beiseite geschoben und vergessen worden waren, die es noch nicht einmal wert gewesen waren, in Form eines Schnappschusses einen Platz auf seinem Schreibtisch eingeräumt zu bekommen. Sie waren weniger wert gewesen als die Köpfe der Tiere, die er erlegt hatte und die nun sämtliche Wände zierten.
Diese Erkenntnis und die tiefe Demütigung, die darin verborgen lag, lösten bei ihr einen Wutanfall aus, der sie so unerwartet überfiel, daß sie sich gar nicht bewußt wurde, was sie tat, bis es zu spät war. Bis sie aufgesprungen war und den ersten Tierkopf mit den toten Glasaugen von der Wand gerissen hatte. Das linke Geweih des
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