Der weite Himmel: Roman (German Edition)
ihren Teller beiseite und stand auf. »Ich will euch jetzt mal etwas sagen.« Ihre Stimme klang betont ruhig und gelassen. »Auf der Mercy Ranch geht alles seinen gewohnten Gang. Der alte Herr ist tot und begraben, und ich nehme nun seinen Platz ein. Also bekommt ihr in Zukunft eure Anweisungen von mir.«
Jim wechselte einen verstohlenen Blick mit Pickles, dann kratzte er sich die Wange. »Ich wollt’ ja gar nichts dagegen sagen, Will. Wir haben uns halt nur gefragt, wie du die anderen beiden – deine Schwestern – auf der Ranch halten willst.«
»Auch die bekommen ihre Anweisungen von mir.« Sie riß ihre Jacke vom Haken. »Wenn ihr aufgegessen habt, dann sattelt eure Pferde.«
»Dämliches Weibervolk«, knurrte Pickles, sowie sich die Tür hinter Willa geschlossen hatte. »Alles herrschsüchtige Hexen, ohne Ausnahme.«
»Du verstehst eben nichts von Frauen.« Jim langte nach seiner dicken Jacke. »Und die hier ist jetzt der Boß.«
»Fragt sich nur, wie lange.« »Im Moment hat sie das Sagen.« Jim schlüpfte in die Jacke und streifte seine Handschuhe über. »Und wir leben nun einmal heute.«
Kapitel 4
Für eine Audienz bei ihrer Mutter – Tess pflegte Besuche bei Louella stets als ›Audienzen‹ zu bezeichnen – wappnete sie sich für gewöhnlich mit einer Dosis extrastarker Tabletten.
Sie wußte, daß sich unweigerlich heftige Kopfschmerzen einstellen würden, also warum sollte sie sich unnötig quälen?
Tess hatte für ihren Besuch den späten Vormittag gewählt, da sie Louellas Gewohnheiten kannte und wußte, daß dies die einzige Tageszeit war, zu der sie ihre Mutter in deren Apartment in Bel Air antreffen würde. Gegen Mittag ging Louella meistens aus, ließ sich das Haar legen, gönnte sich eine Maniküre oder einen Besuch im Kosmetikstudio oder unternahm einen ausgedehnten Einkaufsbummel.
Gegen vier Uhr fand man sie dann in ihrem Club, Louella’s, wo sie mit den Bardamen scherzte oder die Kellnerinnen mit Anekdoten aus ihrer Zeit als Las-Vegas-Showgirl unterhielt.
Tess ließ sich so selten wie möglich bei Louella’s blicken, obwohl sie sich in der Wohnung ihrer Mutter auch nicht viel wohler fühlte. Das im spanischen Stil errichtete Häuschen war von einem herrlichen Garten umgeben, und mit etwas Geschmack hätte man daraus ein wahres Schmuckstück machen können. Aber unter Louellas Händen hätte sich sogar der Buckingham-Palast in eine mit Kitsch überladene Höhle verwandelt, wie Tess mehr als einmal sarkastisch bemerkt hatte.
Als sie um Punkt elf in Bel Air eintraf, bemühte sie sich krampfhaft, die Scheußlichkeiten zu ignorieren, die Louella fröhlich als ›Vorgartenkunst‹ bezeichnete. Kreuz und quer über den Rasen verstreut standen ein dümmlich grinsender Gipszwerg, ein Betonsockel, auf dem sich eine stahlblaue Erdkugel drehte, und ein steinerner Springbrunnen, in dem glotzäugige Goldfische träge vor sich hin dümpelten.
Überall wucherten Blumen in Hülle und Fülle und leuchteten in den herrlichsten Farben, allerdings ohne eine erkennbare Ordnung. Louella setzte jede Pflanze, die ihr gefiel, planlos in die Erde. Sie hatte sich zeit ihres Lebens von ihren Launen leiten lassen, grübelte Tess versonnen, während sie das Durcheinander betrachtete.
Inmitten von scharlachrotem und orangefarbenem Springkraut stand Louellas neueste Anschaffung: der kopflose
Torso der Göttin Nike. Kopfschüttelnd zog Tess an der Klingel, woraufhin die ersten Töne von ›The Stripper‹ erklangen.
Louella selbst öffnete ihr die Tür und schloß ihre Tochter in die Arme. Diese versank in einem Meer von knisternder Seide, ein schweres Parfüm und der süßliche Geruch von billigen Kosmetika hüllte sie ein. Ohne vollständige Kriegsbemalung setzte Louella keinen Fuß vor ihre Schlafzimmertür.
Sie war eine hochgewachsene, üppig gebaute Frau mit endlos scheinenden Beinen, die auch im Laufe der Jahre nichts von ihrer Attraktivität eingebüßt hatte. Ihre ursprüngliche Haarfarbe gehörte längst der Vergessenheit an. Seit Jahren schon färbte sie sich ihre Mähne platinblond und trug sie hochtoupiert und mit Unmengen Haarspray fixiert.
Unter den dicken Schichten von Make-up und Puder verbarg sich ein ausdrucksvolles Gesicht mit hohen Wangenknochen und vollen, schön geschwungenen Lippen, die Louella stets glänzend rot zu schminken pflegte. Ihre mit gleichfarbigem Lidschatten betonten Augen leuchteten himmelblau, darüber wölbten sich gnadenlos zu dünnen Strichen ausgezupfte
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