Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Augenbrauen.
Wie immer schwankte Tess beim Anblick ihrer Mutter zwischen Liebe und Gereiztheit. »Mom.« Sie küßte ihre Mutter leicht, als sie die Umarmung erwiderte. Dann verdrehte sie ergeben die Augen, als die beiden kleinen Spitze, die Louella heiß und innig liebte, vor Freude über die unerwartete Gesellschaft ein ohrenbetäubendes Gekläff anstimmten.
»Du bist also glücklich aus dem Wilden Westen heimgekehrt.« Louellas texanischer Akzent erinnerte an das Summen von Banjosaiten. Sie küßte Tess auf die Wange und entfernte dann die Lippenstiftspuren mit einem angefeuchteten Finger. »Na, dann erzähl mal. Ich hoffe, der alte Bastard ist in angemessenem Stil unter die Erde gebracht worden.«
»Es war sehr … sehr interessant.«
»Jede Wette. Jetzt laß uns Kaffee trinken, Schätzchen. Carmine hat heute seinen freien Tag, also müssen wir uns selber helfen.«
»Ich mach’ das schon.« Tess nahm es gern in Kauf, den
Kaffee selbst aufzubrühen, wenn ihr dadurch eine Begegnung mit dem machohaften Diener ihrer Mutter erspart blieb. Sie wollte erst gar nicht darüber nachdenken, welche Dienste der Mann Louella sonst wohl noch leistete.
Sie durchquerte den in Scharlachrot und Gold gehaltenen Wohnraum und betrat die schneeweiß geflieste Küche. Wie üblich blitzte alles vor Sauberkeit. Was auch immer Carmine während seiner Dienstzeit treiben mochte, er war so ordentlich wie eine Nonne.
»Irgendwo muß auch noch Kuchen sein. Ich hab’ einen Mordshunger.« Louella begann, in den Schränken herumzukramen. In Minutenschnelle regierte das Chaos.
Tess verbiß sich ein Grinsen. Das Chaos folgte ihrer Mutter so selbstverständlich wie Mimi und Maurice, die beiden kläffenden Spitze.
»Hast du deine Verwandten kennengelernt?«
»Wenn du meine Halbschwestern meinst, ja, ich habe sie getroffen.« Mißtrauisch betrachtete Tess den Schokoladenkuchen, den ihre Mutter zutage gefördert hatte und den sie gerade mit einem Steakmesser in große Stücke zerteilte. Was da auf eine mit Rosen verzierte Platte geschaufelt wurde, mußte den Gegenwert von ungefähr einer Million Kalorien haben.
»Wie sind sie denn so? Nun laß dir doch nicht die Würmer aus der Nase ziehen.« Louella schnitt ein großzügiges Stück für ihre Hunde ab, legte es auf einen Porzellanteller und stellte ihn dann auf den Boden. Die Spitze machten sich sofort darüber her, wobei sie sich gegenseitig drohend anknurrten.
»Die Tochter von Ehefrau Nummer zwei ist ziemlich still und nervös.«
»Ach ja, das ist die, deren geschiedener Mann so gern seine Fäuste gebraucht.« Louella schnalzte mitfühlend mit der Zunge und schob ihre ausladenden Hüften auf einen Stuhl. »Armes Ding. Eines meiner Mädchen hatte die gleichen Probleme. Ihr Kerl hat sie bei jeder Gelegenheit grün und blau geschlagen. Wir haben sie schließlich in einem Frauenhaus untergebracht. Inzwischen lebt sie in Seattle. Schickt mir ab und zu ’ne Karte.«
Tess murmelte etwas vor sich hin. Zu den ›Mädels‹ ihrer
Mutter zählte so ziemlich jede Frau, die für sie arbeitete, von den Kellnerinnen über Bardamen und Stripperinnen bis hin zu den Küchenhilfen. Louella schloß sie alle in ihr großes Herz, lieh ihnen, wenn nötig, Geld und verteilte gute Ratschläge. In Tess’ Augen war Louella’s gleichermaßen ein Nachtclub wie ein Asyl für Oben-ohne-Tänzerinnen.
»Und die andere?« fragte ihre Mutter, als sie ihr Stück Kuchen in Angriff nahm. »Die Kleine mit dem Indianerblut.«
»Die? Das ist ein weiblicher Cowboy. Zäh wie Leder, stolziert ständig in dreckigen Stiefeln durch die Gegend. Ich kann mir gut vorstellen, wie sie hoch zu Roß Rinder zusammentreibt.« Bei dem Gedanken mußte Tess schmunzeln. Sie goß ihnen beiden Kaffee ein. »Sie hat sich nicht die Mühe gemacht, ihre Abneigung Lily und mir gegenüber zu verbergen. Sie will keine von uns beiden auf der Ranch haben.« Achselzuckend nahm sie Platz und begann, in ihrem Kuchen herumzustochern. »Außerdem hat sie noch einen Halbbruder.«
»Ja, ich weiß. Ich kannte Mary Wolfchild – zumindest vom Sehen. Eine bildhübsche Frau, und ihr kleiner Junge hatte ein richtiges Engelsgesicht.«
»Inzwischen ist er erwachsen, aber er sieht immer noch göttlich aus. Er lebt auch auf der Ranch, kümmert sich um die Pferde oder so.«
»Sein Vater war ein Cowboy, wenn ich mich recht entsinne.« Louella langte in die Tasche ihres Kaftans und holte eine Packung Virginia Slims hervor. »Was macht denn Bess?« Lachend stieß
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