Der weite Weg nach Hause
zugesteuert. Sie lag jetzt bestimmt neben seinem großen, hässlichen Kopf. Und mit seiner riesigen Pranke knetete er im Schlaf sicher ihre Brust ...
»Los«, sagte der Wachtmeister, »hier wird nicht geträumt. Ich habe allmählich genug von Ihnen, Olev. Machen Sie noch einen Anruf.«
Lev saß wieder auf dem Plastikstuhl im Korridor, als er sie kommen sah: seine regelmäßige Retterin, eine unattraktive Frau, von zwei verzogenen englischen Kindern mit dem grausamen Spitznamen »Müsli« verspottet. Da war sie wieder, trug einen neuen beigefarbenen Mantel, hatte das Haar modisch kurz geschnitten, aber sie machte das vertraute gepeinigte Gesicht, ein Gesicht, das ausdrückte: In Ordnung, ich verzeihe Ihnen ein weiteres Mal, Lev. Aber bald, sehr bald schon, werden Sie mich einmal zu oft geprüft haben ...
Sie setzte sich neben ihn.
Ihm war bewusst, wie gespenstisch er aussah und dass noch immer der Geruch des Erbrochenen an ihm haftete, und er senkte verlegen den Kopf und sagte: »Es tut mir so leid, Lydia. Es tut mir leid, dass ich Sie darum gebeten habe, dies für mich zu tun. Ich zahle es Ihnen zurück, das verspreche ich.«
»Tja«, sagte Lydia mit leichtem Naserümpfen, »ich weiß nicht, wann Sie es mir zurückzahlen wollen. Ich fahre morgen nach Wien. Sie hatten großes Glück, mich noch anzutreffen.«
Sie war etwas von ihm abgerückt. Er betrachtete ihr Profil, dann ihre Füße in den schwarzen Pumps, die sie adrett nebeneinandergestellt hatte. Plötzlich ergriff ihn eine große Zärtlichkeit und erstickte ihn fast. Nur der Gedanke daran, dass sie bald schon in ihr neues Leben mit Pjotr Greszler aufbrechen und vollständig aus dem seinen verschwinden würde, hielt ihn davon ab, in Tränen der Scham auszubrechen, weil er sie in ihrer treuenVerbundenheit so oft und so hässlich vor den Kopf gestoßen hatte.
»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. »Ich bereite Ihnen immer nur Kummer. Ich weiß. Wenn ich nur mein Portemonnaie nicht verloren hätte ...«
»Es ist in Ordnung, Lev. Also, wo soll ich die achtzig Pfund bezahlen? Ich habe heute noch viel zu erledigen, die ganze Packerei, dann muss ich noch zu Tom und Larissa, mich verabschieden. Also ...«
»Haben Sie Bargeld mitgebracht, Lydia?«
»Ja. Ich bin doch kein Idiot. Also, wo muss ich zahlen?«
Sie gingen hinaus in den Regen.
Beide kannten sich in Chelsea nicht aus. Lev zitterte wieder, hing an Lydias Arm. Sie hielt einen klapprigen Regenschirm. Er lief, ohne etwas zu sehen, und hoffte vage, sie kenne die Richtung, aber sie blieb bald stehen und erklärte, sie habe sich verlaufen. Sie schaute die Straße auf und ab, betrachtete die noblen, weiß gestrichenen Häuser und die schmiedeeisernen Balkone mit den kunstvoll beschnittenen Ziersträuchern.
»Pelham Crescent«, sagte sie. »Die kommt mir nicht bekannt vor.«
Wieder im Warmen sein. Sauber sein. Irgendetwas Weiches, Süßes essen. Eine Zeit lang schlafen. Solcherlei Sehnsüchte beschäftigten Lev innerlich und hielten sämtliche anderen Gedanken fern. Er sah, wie Lydia ihn anstarrte, und vielleicht verstand sie ihn, denn sie überließ ihm den Schirm und ging auf eine Frau zu, die gerade vor einer der schönen Haustüren mit den rechts und links Wache haltenden Lorbeerbüschen aus einem Range Rover stieg. Und Lev hörte Lydia sagen: »Entschuldigen Sie, können Sie mir helfen? Wo ist die U-Bahn, bitte? Mein Freund ist krank.«
Lydia kam zurück, nahm Lev und führte ihn fort wie ein Kind, fand ein italienisches Café in der Nähe der U-Bahn-StationSouth Kensington und hieß ihn dort auf einem Holzstuhl Platz nehmen. Sie zog ihren beigefarbenen Mantel aus und legte ihn Lev über die Schultern, und er spürte im seidenen Mantelfutter noch die Wärme ihres Körpers. Er hörte, wie sie Kaffee und Kuchen bestellte.
»Lev«, sagte sie nach einer Weile, als er das erste Stück Kuchen verschlungen hatte und sich die Hände an dem Becher mit dampfenden Kaffee wärmte. »Lev. Da ist nur eine Sache, die mich beunruhigt.«
Er schaute sie an: des berühmten Maestro Greszler Geliebte in spe, deren Tage des Pullover-Strickens und Von-Eiern-Lebens gezählt waren. Ohne sie säße er immer noch auf einem Plastikstuhl in der Polizeiwache. Ohne sie würde er vielleicht immer noch Kebabprospekte für Ahmed verteilen und in Kowalskis Hof schlafen.
»Hören Sie mir zu?«, sagte sie.
»Ja.«
»Was auch geschehen ist − und ich werde Sie nicht bitten, es zu erklären, weil ich spüre, Sie täten es ungern
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